30. Januar 2021

Niemand haftet bei Sturz über E-Scooter

Kurz gesagt: Niemand. Das ist derzeit  nach dem Prinzip geregelt: Guck halt, wo du hintrittst!

Schwierig wird das für Blinde. Im vergangenen Jahr stürzte ein Bremer, der seit Geburt blind ist und sich souverän zurechtfindet, über zwei quer auf dem Gehweg liegende E-Scooter. Den ersten erfasste er noch mit dem Blindenstock, den zweiten konnte er nicht mehr erkennen. Er brach sich den Oberschenkelhals. Jetzt will er sich durch die Instanzen klagen. Denn niemand ließ sich zur Verantwortung ziehen, auch die Betreiber-Firma Voi nicht. Besonders hat ihn erschüttert, dass die Polizei, die kam, meinte, er sei selber schuld.

Als er Anzeige erstatten wollte, wurde er als Unfallversursacher behandelt, der eine Ordnungswidrigkeit begangen habe und für eventuelle Schäden am E-Scooter aufkommen müsse. Er bekam eine mündliche Verwarnung. Daraufhin engagierte er den Marburger Anwalt, Michael Richter. Der Weser-Kurier zitiert ihn mit der Aussage, auch Sehende können über die Roller stolpern, aber da lasse sich ein schwerwiegendes Mitverschulden behaupten, weil man hingucken müsse, wo man geht. Bei Blinden ist das anders, aber offensichtlich juristisch nicht einfacher. Als Verursacher kämen theoretisch fünf infrage: 

  • Sein Mandant, der aber nichts falsch gemacht habe, 
  • derjenige, der den E-Scooter abgestellt hat, dem man aber in der Regel nicht nachweisen könne, dass er einen Fehler gemacht hat, 
  • den Passanten, der die E-Scooter umgestoßen hat, den man aber nicht findet findet, 
  • der Verleiher, der auch der Halter ist, doch bei Autos sei die Halterhaftung klar geregelt, bei E-Scootern nicht
  • und dann noch die Kommune, die als Verkehrsbehörde das Gewerbe zugelassen hat.

Seine Grundfrage ist: Wie kann man E-Scooter zulassen, wenn man weiß, dass sie auf Gehwegen für andere gefährlich werden können. Wenn ein Gastwirt seine Tische vors Lokal stelle, so der Anwalt, sei  sofort das Ordnungsamt da. Nun sind E-Scooter ja keine festen Installationen auf Gehwegen, sondern sie tauchen hier und dort auf, und wer sie abgestellt hat, weiß keiner.

Das Problem ist, dass man  immer ein konkretes Fehlverhalten nachweisen muss: Die Verleihfirma hat aber nichts falsch gemacht, denn die Dinger sind ja erlaubt und dürfen auf Gehwegen abgestellt werden, wenn sie niemanden behindern (nur gefahren werden dürfen sie auf Gehwegen nicht) Wenn die Mitarbeiter:innen der Verleihfirma selbst E-Scooter als Hindernis aufstellt, dann dürfte sie auch verantwortlich zu machen sein. Aber wenn Kund:innen das tun, ist sie nicht verantwortlich. Wobei ich mir denke, dass man eigentlich rekonstruieren können müss, wer den Scooter zuletzt gefahren und abgestellt hat, denn sie werden ja über Kreditkarten bezahlt. 

Die Grundfrage lautet: Wem gehört der Gehweg? Muss er für Fußgänger:innen freigehalten werden von allem, wo er:sie gegenlaufen oder worüber man stolpern kann? Dann müssten sofort auch alle Schildermasten beseitigt werden, und nicht nur die. Und wie ist das mit mobilen Hindernissen? Ist eine Frau verantwortlich, die ihren Kinderwagen neben den Stufen eines Bäckerladens abgetellt hat, wenn jemand dagegen läuft und hinfällt? Das würden wir doch verneinen. Und wenn wir ein Fahrrad an einem Masten angeschlossen haben und jemand bleibt mit dem Ärmel daran hängen oder bleibt mit dem Fuß am Vorderrad hängen und stürzt, sind wir Radfahrenden dann haftbar zu machen? Auch wir dürfen ja Räder auf dem Gehweg abstellen, wenn wir niemanden behindern. Wo fängt aber Behinderung an?

Private Gehwege müssen von Anwoner:innen freigehalten werden, zum Beispiel von Schnee und Eis. Und stehen die Platten schief oder haben Löcher, werden die Hausbesitzer aufgefordert, die Schäden zu beheben. Im öffentlichen Raum haftet die Stadt auch durchaus, wenn jemand auf unebenem Pflaster stolpert und sich verletzt. Hier gilt eine Verkehrssicherungspflicht und nicht das Prinzip: Guck halt, wo die hintrittst!

Diese Verkehrssicherungspflicht sollte, finde ich, auch dann gelten, wenn die Stadt es zulässt, dass Autos und Motorräder (auch die Leih-E-Mopeds) auf Gehwegen parken (was verboten ist,). Hier kann sich die Stadt immerhin am Halter oder letzten Nutzer schadlos halten. Oder eben, wenn sie E-Scooter-Leihsyteme genehmigt, denn es ist ja klar, dass sie dann auf Gehwegen herumstehen und herumliegen. Hier könnte die Kommune mit dem Betreiber Vereinbarung über die Haftung bei Abstellunfällen auf Gehwegen und Radwegen abschließen. 

Wie verfahren wir aber dann mit auf Gehwegen abgestellten Fahrrädern? Der Versuch des Bundesverkehrsministeriums, das Radabstellen auf der Fahrbahn (auf Stellplätzen für Autos) zu verbieten, ist zum Glück gescheitert, aber die meisten von uns stellen ihre Räder nicht dort ab, wo Autos Raum zum Parken zugestanden wird, sondern auf Gehwegen. Wenn wir E-Scooter-Verleihfirmen für gefährlich abgestellte E-Scooter haftbar machen wollen, dann heißt es sofort: Und die Radfahrer? Sind sie haftbar, wenn jemand mit einem geparkten Fahrrad kollidiert? Müssten die Besitzer:innen dieser beiden Fahrräder für eine Ordnungswidrigkeit zahlen (oder nur der Mopedfahrer oder beide), weil man hier mit Rollstohl oder Kinderwagen nicht mehr durchkommt oder jemand hängen bleibt.

Wir sehen also, das Thema ist nicht trivial. Den meisten hier dürfte Lösungsvorschalg ganz leicht fallen: Alles Gerümpel runter auf die Fahrbahn, dorthin wo heute die Autos parken. Aber bis wir so weit sind, dass wir alle Fahrräder, alle E-Scooter und alle Mopeds auf der Fahrbahn am Bordstein oder auf Stuttgarter Vierecken bstellen können, dauert es noch ein paar Jahre. 

Ich bin gespannt, wie die Gerichte entscheiden. Dem Blinden aus Bremen heht es nicht um Schadensersatz oder Schmerzensgeld, er will die Haftung gerichtlich geklärt haben. Die Krankenhauskosten übernimmt in solchen Fällen ja die Krankenkasse. Aber auch die Kassen könnten das Bedürfnis haben, sich das Geld beim eigentlichen Verursacher der Gefahr wieder zu holen.

5 Kommentare:

  1. Es wäre schön und sehr hilfreich, wenn die Gefährte an mehreren Stellen mit reflektierenden aufklebern versehen wären. Das wäre auch bei der Fahrt im Verkehr sicherer, aber eben auch wenn die auf dem Radweg liegen. Die Geräte bei denen immer Licht leuchtet, damit man sie besser findet, finde ich auch viel besser.

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  2. So wie für Kfz-Verkehrsflächen gibt es auch für Radwege und Gehwege Mindestbreiten, die freigehalten werden müssen. Diese Mindestbreiten sind gestaffelt nach Verkehrsaufkommen, Bedeutung der Strecke im Verkehrsnetz und anderen Kriterien. Dieser Bereich muss freigehalten werden. Daneben befinden sich Bereiche, die anderweitig genutzt werden dürfen.

    Will jemand eine Sondernutzung, dann muss er beim Ordnungsamt einen Antrag stellen und sich das genehmigen lassen - auch z.B. zum Aufstellen von einem Mast für Verkehrsschilder, für Aussengastronomie und zum Lagern von Gegenständen.

    Verkehrssicherungspflichtig ist der Baulastträger (dürfte die Stadt sein - in Stuttgart ist das aber auf manchen Strecken auch die Bahn (S21-Baustellenbereiche) oder das Land (Teile des Schloßgartens). Per Satzung wälzen viele Gemeinden, auch Stuttgart, manche Aspekte wie den Winterdienst auf die Anwohner ab. Wo es keine Anwohner gibt (und für die restlichen Aspekte) bleibt die Stadt in Verantwortung. Das Ordnungsamt hat dabei die Aufgabe, gegen Verursacher von Verstößen vorzugehen, Fristen zu setzen, Bussgelder zu verhängen usw. Die Stadt hat das Recht (und die Pflicht), den Verkehr zu ordnen und vor allem den Fussverkehr (als wesentlichstes Verkehrsmittel) flüssig und ungefährdet zu ermöglichen. Dafür ist es nicht unüblich, Sperrflächen zum Abstellen von E-Scootern festzulegen. Wie konsequent und systematisch das die Städte tun, da gibt es große Unterschiede.

    Ist an den geschilderten Zusammenhängen etwas falsch?

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  3. Jenseits der Frage nach Sinn oder Unsinn der E-Scooter (im Vergleich zum Fahrrad etwa) landen wir doch immer wieder bei derselben Ursache, der völlig ungerechten und unzweckmäßigen Verteilung des Verkehrsraums zugunsten des MIV.

    Warum um Alles in der Welt muss dann die Lösung dieses Grundübels "noch ein paar Jahre" (gemeint sind natürlich allermindestens 15 oder 20 Jahre) dauern? Etwa weil das politisch in Wahrheit nicht gewollt ist, oder den Verantwortlichen der Mumm dazu fehlt?

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  4. Ralph Gutschmidt31. Januar 2021 um 08:12

    Ich bin entsetzt, dass hier über allgemein bekannte Grundsätze diskutiert wird. Seit hundert Jahren haftet bei Schäden durch Kraftfahrzeuge der Halter. Sogar daran "nicht trivial“?

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  5. Jörg
    Den Fall werden Gerichte klären wir können Meinungen haben. "In der Rechtsprechung sind bei verkehrswidrigem Halten oder Parken je nach der Schwere des Verstoßes und nach dem Grad der Behinderung Mithaftungsquoten von 25 bis zu voller Haftung angenommen worden." So steht es irgendwo. Die Dinger liegen verkehrswidrig herum. Egal wer gefahren ist, der Halter ist für so etwas dran. Schade, das Regeln für die Benutzung des Gehwegs so schwach definiert sind. Ärgerlich sind die Diskussion mit dem Stadtplanungsamt. Die sagen der Gehewg ist 2,5 m breit. Wenn ich messe sind es z.B. 1,7 m oder 0,5 m weil dort eine Laterne oder ein Ampelmast steht. Da sehe ich eine echte Lücke, diese Lücke wird leider zu stark ausgenutzt. Von Parkscheinautomaten, Mülltonnen, Schildern, Fahrrädern und und und. Für Kinderwägen, Rollstühle und Rolator gelten im Hausflur Sonderregeln, wieso nicht auch draußen.

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