Im politischen Diskurs um die Verkehrswende haben die Rechten (also, die, die unbedingt wollen, dass der Verkehr so bleibt wie er ist: autobetont), das Wort "Ideologie" als Kampfbegriff gegen alle etabliert, die eine Verkehrswende wollen. Da heißt es dann "Rad-Ideologie" oder "Wir machen Verkehr ohne Ideologie", und alle verstehen das genau so, wie diese Leute es meinen: Fahrradpolitik sei ideologisch, eine Politik fürs Auto nicht. Also: Veränderung geschehe immer aus einer Ideologie heraus, das Beharren auf dem Status quo dagegen habe damit nichts zu tun.
Es gibt
ausgefeilte Definitionen von Ideologie, aber vielleicht können wir uns hier auf auf diesen Aspekt einigen: Ideologie unterwirft die Erkenntnis der Welt und die eigenen Argumente immer einer Absicht, die blind macht für Wirklichkeit. Ich habe mich schon vor
sechs Jahren darüber gewundert, dass Radfahren eine Ideologie sein soll, Autofahren aber keine.
Autoideologen halten sich mit ihrer Weltvorstellung an früher, als man Stadtautobahnen durch die Innenstädte schlug, die zugleich wirtschaftlich prosperierten. Der Erhalt der Wirtschaftskraft erscheint für sie deshalb ans Auto gekoppelt. Wenn man in die Geschichte schaut, sind große Kulturen meistens deshalb untergegangen, weil sich die Umweltbedingungen änderten und sie sich nicht anpassen konnten. Mir scheint, es ist vor allem das Klima, das starre Kulturen beendet. Man vermutet, dass
die Mayas wegen Kriegen, Raubbau und Dürre untergingen, und das alte
Ägypten hörte auf zu existieren, als der Nil nicht mehr die erwarteten Überflutungen lieferte. Werden die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit getroffen, dann können Kulturen jedoch überleben und weiterbestehen. So tötete man auf der winzigen Insel Tikopia um 1600 alle Schweine, weil sie mehr fraßen als ihr Fleisch brachte. Das (und weitere Beispiele
hier nachzulesen) sorgte für eine effiziente Landwirtschaft und hielt die Bevölkerung konstant.
Wieviel Realität und Erkenntnisse müssen Autoideologen eigentlich ignorieren, damit ihr Weltbild intakt bleibt? Fakt ist, in der Stadt ist Radfahren schneller und bequemer, Radfahrende geben mehr Geld im lokalen Handel aus, Kinder sind gesünder und klüger, wenn zur Schule gehen oder mit dem Rad fahren, viele breite Straßen erzeugen mehr Autoverkehr, der sich dann wieder staut. Und die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Wohl und Wehe der Autoindustrie kostet uns viel Geld und kann nur mit Subventionen aufrechterhalten werden. In der Autoindustrie samt Zulieferern
arbeiten etwa 820.000 Menschen. Das kling viel, ist es aber nicht. Im Gesundheitswesen sind es etwa 5,2 Millionen, die auch Steuern zahlen, und die sich endlich ein öffentliches Verkehrssystem wünschen, das den Schichtzeiten gerecht wird. 2019 beschäftige die Fahrradbranche immerhin
schon mal gut 281.000 Menschen mit steigender Tendenz, übrigens ohne die vielen großzügigen Förderungen, die die Autoindustrie genießt. In Zeiten des Fachkräftemangels kann das Arbeitsplatz-Argument ohnehin nicht mehr das zugkräftigste sein. Hochtechnologische Wirtschaftszweige leiden außerdem unter Lieferschwierigkeiten und den Auswirkungen des Ukraine-Kriegs. In Sachen Energie haben wir auch gerade gelernt, wie abhängig wir von der Weltlage sind, wie wenig autonom, und zwar weil die Vorgängerregierung den Ausbau der Windenergie und Solarenergie gekillt und eine immense Abhängigkeit von russischem Gas (Öl, Kohle, Uran) geschaffen hat. So offensichtlich selbstschädigende (also die Bevölkerung schädigende) politische Strategien können nur ideologisch motiviert oder aber zynisch (wissend, dass sie falsch sind, aber einzelnen nützen) sein. Die Autoindustrie und die Energieversorger sollten in jedem Fall billig arbeiten können und so gerettet werden. Weniger ideologisch verblendete Politiker:innen hätten aus der Analyse der Verhältnisse abgeleitet, was zu tun ist, und pragmatisch reagiert. Vorausgesetzt man erkennt an, dass unsere Verbrennungs-Industrie für die Klimaerwärmung verantwortlich ist, hätte man alle Technologien fördern müssen, die zu weniger Verbrennungsvorgängen führen, und diejenigen beenden, die uns schaden.
Ein Handeln aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fakten der Wirklichkeit kann nicht ideologisch motiviert sein, es ist faktenbasiert und realistisch.
Warum ist der Widerstand dagegen aber so groß? Zum einen verdienen Menschen Geld in diesen Wirtschaftsbereichen, die uns schaden. Unser Weltwirtschaftssystem ist darauf ausgerichtet, dass einige wenige bestimmen, was gekauft wird, und daran verdienen. Die wollen ihre Macht natürlich nicht hergeben, solange sie selber leben. Aber es weigern sich ja auch nicht wenige Menschen, die gar nicht mitverdienen, veränderte Realitäten wahrzunehmen und ihr Verhalten anzupassen. Warum halten so viele Menschen daran fest, sich teure (und zwar die richtig teuren, nicht die billigeren) Autos zu kaufen, die teuer betankt werden müssen? Cui bono? Wem nützt es. Ihnen selber nicht. Sie glauben aber, dass ihr Wohlstand davon abhängt, dass sie Autos kaufen, damit Autos hergestellt werden können, weil unser Wohlstand von der Autoindustrie abhängt. Und sie haben selber einen Verkehrserziehungsprozess durchlaufen, der darauf abzielt, dass sie vom Auto abhängig werden. Jetzt kennen sie sich in der Autoverkehrswelt blendend aus, kennen die Spielregeln auf Autobahnen und im Stadtverkehr und das Flensburger Punktesysstem und meinen, sie hätten das Auto und damit ihr Leben unter Kontrolle. Keiner verliert gern die mühsam erarbeitete Kontrolle. Wir sind Kontrollfreaks.
Dass sich viele eine Änderung der Mobilitätsvehikel als weltfremd ablehnen, hängt auch damit zusammen, dass die meisten Menschen nicht merken, dass sie innerhalb eines bestimmten Weltbilds leben, wenn viele in ihrer Umgebung die gleichen Ansichten haben. Dann erscheint die Einschätzung der Wirklichkeit als allgemein gültig, als Wahrheit. Autoideologen meinen, dass es zum Autofahren keine Alternative gibt, weil die Menschen nun einmal Auto fahren müssten, um ihren Alltag oder ihren Beruf zu bewältigen.
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Eberhardstr.: oben mit Autos, ohne FußgängerInnen, unten autofrei. |
Deshalb behauptet ein Politiker, die Eberhardstraße sei Ideologie (sie ist Fahrradstraße mit einem Verbot für Autos, an das sich aber viele nicht halten). Komischerweise ist für ihn die Königstraße, die schon seit den Siebzigern reine Fußgängerzone mit einem Verbot für Autos ist, keine Ideologie (Fußgängerideologie, Händlerideologie) Die gibt es halt schon so lange, dass sie Teil der Wirklichkeit geworden ists, die er kennt und die darum einen Ewigkeitscharakter hat. Für solche Leute darf sich unsere Gesellschaft keinen Deut verändern, denn, wenn sie sich änderte, würde er sich nicht mehr auskennen und womöglich die kleinen Machtpositionen verlieren, die er sich erarbeitet hat: mit dem Auto durch die Innenstadt kreisen und es dann auf einem Gehweg oder im Halteverbot parken, weil er nur mal kurz zum Bäcker oder anderswohin muss.
Festhalten an sogenannten altbewährten Strategien beschleunigt nur den Untergang. Wir in Deutschland werden künftig nicht mehr von der Autoindustrie unseren Wohlstand bestreiten. Wir, die der Autopolitiker Radideologen nennt, verweisen seit Jahren auf Erfahrungen anderer Städte, die das Auto zurückdrängen und sich wirtschaftlich erholen. Mich überzeugen diese Argumente und die ihnen zugrunde liegenden Fakten mehr als die der Autoideologen. Deshalb vertrete ich sie. Und ich habe in den letzten Jahren keine Untersuchung mehr gesehen, die beweist, dass möglichst viele Autos in die Innenstädte hineinfahren müssen, damit die Händler:innen ihre Geschäfte machen können. Ich sehe mehr Fakten, die für autoarme Innenstädte, starke öffentliche Verkehrssysteme und eine kompromisslose Fahrradpolitik sprechen, als für viele Autos in schmalen Citystraßen. Auf diese Argumente lassen sich die Autoideologen aber nicht ein. Ich höre immer nur drei: "Der Handwerker muss zum Haus kommen, wo er zu tun hat." - "Nicht jeder kann Rad fahren." und "Nur Autofahrer, die vor dem Laden parken können, bringen Umsatz." Händler:innen überschätzen dabei die Rolle es Autos. Nur 7 bis 10 von 100 Menschen, die einen Laden betreten, sind mit dem Auto gekommen. In Berlin vermuteten Händler:innen aber, 22 Prozent ihrer Kund:innen seien mit dem Auto gekommen. Ohnehin ist es ja eine Illusion, dass diese 7 von 100 Kund:innen einen Parkplatz direkt vor dem Laden gefunden haben, und nicht aus einem Parkhaus kommen, die man ja auch bei autoarmen Innenstädten immer anfahren kann.
Es ist offensichtlich, dass das Auto einer Stadt und ihren Menschen nicht guttut, es macht Lärm (und zwar sehr viel, wenn es am Wochenende nachts von jungen Männern mit Lust an Lautstärke gefahren wird), es produziert Luftgifte, es trägt zur Überhitzung der Städte bei, es kostet uns viel Geld, das die Autofahrenden selber gar nicht aufbringen, sondern alle Steuerzahler:innen bezahlen müssen, und es macht Innenstädte für Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad unattraktiv. Und die bringen vor allem das Geld. Auch auf dem Land wären Menschen ohne Auto glücklich, wenn es einen funktionierenden öffentlichen Nahverkehr und überall gute Radwege gäbe. Jugendliche könnten überall hin, ohne chauffiert werden zu müssen, alte Menschen könnten am öffentlichen Leben teilnehmen, auch wenn sie kein Auto haben, und der Geldbeutel würde entlastet, schließlich sind Auto und Treibstoff teuer.
Wieso also auf dem Auto beharren, wenn es so gute Alternativen gibt, die meistens auch noch bequemer sind? Vorausgesetzt, man fängt endlich an, sie zu priorisieren und auszubauen. Aber dafür bräuchte es ideologiefreie Diskussionen über den besten Weg in die mobile Zukunft.
Wie schon das letzte Mal gesagt, die grundlegende Ideologie ist der Kapitalismus. Von dessen Welt- und Menschenbild (nachgewiesenermaßen falsch) leitet sich alles Weitere ab, die Aufteilung der Menschen in Starke und Schwache, daraus das Recht des Stärkeren als Grundprinzip der Gesellschaft, ja sogar des sog. Rechtsstaats, die Diskriminierung von Outgroups (die, die aus irgendeinem Grund als "schwach" deklariert werden, z.B. eben Radfahrer) usw.
AntwortenLöschenDas Recht des Stärkeren und Diskriminierung von Minderheiten ist keine Eigenschaft, die man nur dem Kapitalismus zuordnen kann. Gewinnoptimierung für einige Wenige auf Kosten der riesigen Mehrheit aber schon, wenn es auch Sklaverei und Ausbeutung schon in Gesellschaften der Bronzezeit gab. Kapitalismus ist immer so ein großes Wort, das da wie eine Wand steht, gegen die man nur anrennen kann. Ich mag es gern subversiv und untergrabend. 😊
LöschenUnser aktuelles Gesellschaftssystem ist nun einmal der Kapitalismus. Und nur Gegner und Probleme, die man klar benennen kann, kann man auch bekämpfen.
LöschenPersönlich bin ich gegen jede Form der Machtausübung, da diese unweigerlich korrumpiert.
Der Vorwurf ein Ideologe zu sein ist eine argumentative Kapitulation in der Sache. Man verlässt die Diskussion um die Sache und hebt diese auf eine abstrakte Ebene. Der Vorwurf soll spalten, zuspitzen, die Gegenargumente entwerten, dass man sich nicht mehr in der eigentlichen Sache auseindersetzen muss. Ein schönes Beispiel aus der Vergangenheit von Bundestagswahlkämpfen ist "Freiheit oder Sozialismus". Gerade die oppositionelle CDU Stuttgart verwendet diesen Vorwurf fast schon inflationär wenn es um Radinfrastruktur geht. Funfact, derjenige der das Thema Mobilität im Gemeinderat für die CDU vertritt ist Mitarbeiter eines hiesigen Autoherstellers. Eigentlich würde es die politische Hygiene gebieten, bei einem Thema, in welches man beruflich involviert ist, Zurückhaltung zu wahren. Das dies hier nicht so ist, ist ein Hinweis wo die eigentlichen Ideologen sitzen. Was mir an der Debatte zu kurz kommt, die CDU Stuttgart heizt die Diskussion damit an. Was im Gemeinderat wenig Schaden anrichtet, wird auf der Straße schnell zu Gewalt gegen Radfahrer. Sie sind Ideologen, böse Verkehrsteilnehmer mit unlauteren Absichten, wir werden entmenschlicht. Ich hoffe die CDU Stuttgart ist sich darüber im Klaren, wohin ihre Politik der Unsachlichkeit führt.
AntwortenLöschenFür die Klimakrise - auch in der Stadt Stuttgart - ist die Stuttgarter CDU maßgeblich mitverantwortlich; von ihr stammen Äußerungen wie: „was haben wir mit der Ausbreitung der Wüsten zu tun“; „für den Alltagsradler tun wir nichts!“ oder „ÖV-Bevorrechtigung (an Signalanlagen, der Verf.) braucht keine Sau!“... und so wurde auch gehandelt bzw. i.S. des Klimaschutzes nicht gehandelt!
LöschenSehr schwierig. Ich glaube aus der Sicht von Ideologen sind Idealisten Ideologen. Aus der Sicht von Idealisten sind Ideologen Ideologen. Also egal, von wo man guckt: Der andere ist immer ein Ideologe. Witzig.
AntwortenLöschenStefan, Fürstenfeldbruck, Bayern
AntwortenLöschenIdeologie heißt Ideenlehre - nicht Ideenleere.
meine tochter war neulich mit ihrer gymnasialschulklasse im bundestag. der einladende mdb eines stuttgarter wahlkreises erklärte, dass seine partei die einzig ideologiefreie wäre. angeblich erwiderte sie, dass auch das christentum eine ideologie sei.
sein parteifreund indes warb zuletzt erfolglos mit einer anti-ideologischen mobilitätskampagne, um im gleichen atemzug für "grünen wasserstoff" zu sein (die urheberschaft dieses irrwegs ist ja mittlerweile hinlänglich bekannt und auch andere sind darauf reingefallen).
sein nachfolger fuhr mit dem rad zur vereidigung.
In der Vergangenheit wurde über 50 Jahre die Ideologie der autogerechten Stadt verfolgt. Aus der Windschutzscheibenperspektive dieser Ideologen ist eine Korrektur dieses Kurses natürlich Ideologie
AntwortenLöschenEs ist eine leicht durchschaubare Taktik, einer sachlichen, auf Argumenten und Fakten basierenden Diskussion und Abwägung aus dem Weg zu gehen, der Gegenseite einfach Ideologie vorzuwerfen. Das entwertet die (guten) Argumente der Gegenseite und lenkt davon ab, dass die eigenen Argumente nicht stichhaltig sind. Meine Beobachtung ist: Häufig sind diejenigen, die der Gegenseite Ideologie vorwerfen, selbst ideologisch. Ich würde mich auch nicht auf eine sachliche Auseinandersetzung einlassen, wenn ich Angst vor Veränderung und Angst vor Machtverlust hätte.
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