Ein Auto kommt mir auf meiner Fahrspur entgegen. Der Fahrer hat sich bei der Kurve verschätzt, ich bremse und weiche aus. Gerade noch mal gutgegangen.
Eine Autotür geht auf, links von mir die Straßenbahngleise, ich muss auweichen, jetzt bloß nicht in ins Straßenbahngleis geraten, und hoffentlich kommt nicht gerade hinter mir einer. Ein Autofahrer wechselt ohne Blinker von der linken Spur auf die Rechtsabbiegespur. Zum Glück war ich noch nicht auf die Fahrradweiche gefahren, die zwischen den beiden Spuren liegt. Als ich vom Radweg aus über die Einmündung einer Seitenstraße fahre, höre ich links hinter mir ein Auto eine Vollbremsung machen. Das ist wirklich gerade noch mal gut gegangen, ich wäre tot gewesen, wenn er mich beim Abbiegen nicht gesehen hätte, denn ich habe ihn nicht gesehen, weil vor mir ein Fußgänger gerade in meine Fahrlinie torkelte. Ein Fahrradfahrer, der vor mir fährt, biegt urplötzlich nach links ab, ohne Handzeichen. Gut, dass ich ihn doch nicht gerade dann überholte habe.
Kürzlich lenkte ich mein Fahrrad vom Radweg weg auf eine Freundin zu, ein anderer Radler kam mir in die Quere (er war im Recht, fuhr geradeaus), und ich musste heftig bremsen. Meine Freundin war entsetzt! Für sie hatte es den Unfall schon gegeben, den es gerade eben so nicht gab. Ich verstand ihr Entsetzen nicht: Sowas passiert doch ständig.
So ungefähr drei bis fünf Mal habe ich auf jeder Radfahrt eine Situation, wo ich schnell reagieren muss, weil irgendwas mir in die Quere kommt. Ich kann mich nicht erinnern, dass das bei den vielen Autofahrten, die ich früher gemacht habe, der Fall war. Für Autofahrende ist alles geregelt, die Spuren sind festgelegt, Ampeln zeigen, wann ich fahren oder halten muss, und wenn einer von der Spur abweicht, habe ich noch mein Blech um mich herum.
Radfahrende spüren nicht nur den Wind an den Knien und bei ihnen erzeugt nicht nur jeder Bleckkontakt mindestens einen Bluterguss, sie sind auch viel mehr unsicheren Situationen ausgesetzt als Autofahrende. Manches ist nicht geregelt, oder es begegnen uns andere, die sich nicht an die Regeln halten (darunter auch Radfahrende). Viele Fußgänger:innen bemerken mich nicht im Augenwinkel, wenn sie die Fahrbahn überqueren wollen, sie hören mich auch nicht. Ich muss ständig viel mehr aufpassen als wenn ich im Auto sitze.
Für uns ist aber auch die Beschaffenheit des Untergrunds von Bedeutung: Straßenbahnschienen zum Beispiel. Wenn man in die hineingerät, landet man bestimmt im Krankenhaus, wenn nicht auf dem Friedhof. Aber auch die tiefen Bodenwellen an Bushaltestellen sind nicht so ohne, Schlaglöcher, Bordsteinkanten von tückischer 3-cm-Höhe, Poller, die zu eng stehen, zu breite Ritzen zwischen wackelnden Pflastersteinen, ein Stein in unser Fahrlinie, versenkte Gullideckel, Schlaglöcher, alles Mögliche kann uns aus dem Gleichgewicht bringen und aus der Bahn werfen, wenn wir nicht gleichzeitig auch immer auf den Boden gucken.Autofahrende, die hinter uns hängen, verstehen oft gar nicht, warum ein Radfahrer vor ihnen mal nach links und mal nach rechts lenkt, warum er dem Augenschein nach Schlangenlinien fährt. Bei vier Reifen ist es zwar lästig, in ein Schlagloch zu geraten, aber man stürzt nicht. Auch eine Windböe kann uns von der Linie abbringen, auf der uns ein Autofahrer sicher vor sich zu haben glaubt. Das ist der Grund, warum man Fahrräder mit 1,5 m Abstand überholen muss und vor allem dann nicht an ihnen vorbeidrängen sollte, wenn es wegen geparkter Fahrzeuge ohnehin viel zu eng ist.
Der Effekt: Wir Radfahrende sehen mehr als Menschen, die Auto fahren, wir reagieren schneller, wir können Gefahren besser einschätzen, wir verarbeiten in kürzerer Zeit mehr Informationen, wir sind deshalb, wenn wir mal im Auto sitzen, auch die besseren Autofahrer:innen als Menschen, die nur Auto fahren.
der Radfahrer - die inkompatible Spezies
AntwortenLöschenGenau so ergeht es auch mir als Radfahrer. Ein wenig kann man die Situation verbessern, wenn man sich furchtlos ins Getümmel stürzt. Aber was ist die Konsequenz?
Weder Autofahrer noch Fußgänger achten auf andere Verkehrsteilnehmer, sie haben ja auch einen exklusiven Verkehrsraum, der ihnen zugewiesen ist. In diesem Sinne sind Radfahrer einfach eine inkompatible Spezies. Und das wird sich in der Zukunft auch nicht ändern.
Nur die harten kommen in den Garten - auf die Kampfradler!
Ich persönlich halte recht wenig von Kampfradler. Verstehe mich bitte nicht falsch, ich meine, dass es hat mir auch nichts gebracht im Recht zu sein bei meinen Unfällen mit Autofahrer*innen. Ich denke aber, dass ein emotionales Auftreten nur sehr wenig ändern wird bei Menschen, die sich nicht an Regeln halten.
LöschenMein Problem ist, dass ich selbst keine Ahnung habe wie man das Problem ändern könnte. Ich beobachte, dass Menschen sich angegriffen fühlen, wenn man sie auf Fehler hinweist. Ich beobachte, dass Diskussionen zum Thema Radfahren sehr häufig emotional geführt werden, von beiden Seiten. Ich selbst habe manchmal Probleme, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten wegen den Dingen, die ich schon erlebt habe, ich versuche es aber trotzdem. Das Problem mit emotional geführten Diskussionen: Fakten oder das Verständnis für den jeweils anderen (das bedeutet nicht den anderen zustimmen zu müssen, sondern einfach nur zu akzeptieren) bleiben da sehr häufig auf der Strecke.
Um den Straßenverkehr sicherer zu machen ist meiner nach Meinung eine starke Exekutive von Nöten, aber da gibt es derzeit das Probleme mit Personal, Gelder und dem Gerät selber. Die Polizist*innen können nicht überall gleichzeitig sein.
Beim Umbau der Infrastruktur hakt es auch (vermute ich zumindest) an Gelder und Personal. Nur dass da noch hinzukommt, dass man auch politische Gegner hat, die man überzeugen muss. Und ich habe keine Ahnung wie.
Ein Positivbeispiel habe ich aber noch: Da ich diverse Leute auf dem Land kenne durch Mitarbeiten in Pferdeställen oder einfach Helfen bei Leuten bin ich auch an Tuner-Menschen gekommen. Einem habe ich mal mit Elektroinstallationen geholfen (bin Elektroniker). Lange Geschichte kurz: Er hat mir Material für mein Fahrradanhänger gegeben, zwischen einem Porsche und einer Corvette, und er achtet anscheinend darauf, dass sich "seine" Leute an die STVO halten. Zumindest hat mal ein Kumpel von ihm sehr rücksichtsvoll gegenüber mir auf dem Fahrrad gezeigt, was ich gut fand.
Ein Problem mit der Geschichte aber ist, dass sie sich wahrscheinlich schlecht skalieren lässt, um mehr Menschen zu rücksichtsvollen Verkehrsteilnehmer zu machen.
Ich suche immernoch nach Lösungen.
Ich bin mir da selbst nicht sicher, also ausdrücklich 'ohne Gewähr'!
LöschenVermutung:
Homo sapiens ist evolutionär auf einen relativ beschränkten Geschwindigkeitshorizont ausgelegt und kann sich innerhalb dessen auch mit genügender Aufmerksamkeit souverän bewegen ohne angestrengt Gehirn-Software verwenden zu müssen.
Fußverkehr zB funktioniert im wesentlichen mit Gehirn-Hardware, also gefühlt im Automatikmodus. Selbst dann, wenn wir uns in eigentlich recht komplexen Menschenmengen bewegen.
Bei anderen Säugern scheint das ähnlich zu funktionieren. Wildtiere laufen nicht einfach mal vor irgendwas und sterben daran, ausser das Fenster der evolutionär eingeschriebenen in Frage kommenden Geschwindigkeiten wird verlassen.
Da bei den Wildtieren auch keine ersatzweise einspringende Software (Kognition) übernehmen kann ist die Bilanz sehr brutal.
So fallen ca. 200 Millionen Vögel und ca.30 Millionen Säugetiere allein in der EU dem Autoverkehr Jahr für Jahr zum Opfer, wobei, soweit ich weiss, Kleintiere wie Igel usw. nicht mal komplett mitgezählt werden.
In Deutschland ereignen sich ca. 300.000 amtlich erfasst Autokollisionen mit Wildtieren, in aller Regel mit tödlichem Ausgang, wobei aber nur der Blech- und Personenschaden als relevant angesehen wird, obschon einige Arten durch die Tödlichkeit des Autoverkehrs u.U. über die Schwelle des Aussterbens zu geraten drohen, wie etwa das Haselhuhn.
Dass auch überzeugte Tierschützer:innen trotz zB ca. 200.000 durch Automobilismus getöteter 'süßer' Rehe nicht vom Autogebrauch ablassen, gehört zu den Absonderlichkeiten der aktuellen Mobilitätskultur.
Aber zurück zum Thema:
Auch die nicht gerade seltenen Langsamfahrtunfälle mit Autos dürften den Spezifika der evolutionär entwickelten Wahrnehmung (nicht zu verwechseln mit Sinneseindrücken) geschuldet sein?
These also:
Autoverkehr ist weder für Vögel, noch für tierische Säuger, noch für homo sapiens vereinbar mit artgerechter Haltung.
Die im Artikel beschriebenen Alltagspraxen des Radverkehrs stellen da vielleicht ein Mittelding zwischen artgerechtem Fußverkehr und evolutionär destruktivem Autoverkehr dar?
bei Radfahren gibt Alleinunfälle, auch tödliche, es gibt Rad-Rad Unfälle, aber die Quote ist so extrem viel geringer als zB beim Schwimmen, dass durchaus von sehr sicherem Verkehr gesprochen werden kann, der hauptsächlich vom nicht artgerechten Autoverkehr (und damit verbundener 'autogerechter Separation') als gefährlich wahrgenommen wird.
Zurück zum 'menschlichem Maß'?
'Artgerechte' Mobilität würde zudem jede Menge Zivilisationskrankheiten des 'automobilisierten homo sapiens' verhindern helfen.
Danke für die klugen und ausführlichen Überlegungen, liebe:r Anonymus/a. Schade, dass du uns nicht deinen Namen nennst. Als die Eisenbahn eingeführt wurde, die ungefähr 30 km/h schnell war, fürchtete man, dass das menschliche Nervensystem mit dieser Geschwindigkeit nicht klar kommt. Bis dahin bewegte sich der Mensch nicht schneller als ein Pferd galoppiert oder der Wind ein Segelschiff antreibt oder man mit dem Schlitten einen Berg runter fahren kann, in der Regel aber mit 3 bis 5 km/h. Aber offenbar lieben wir Geschwindigkeit, sie versetzt uns in einen Rausch. Ich finde das zu Fuß Gehen ist die optimale Geschwindigkeit, um alles zu sehen, was am Wegesrand und vor einem ist. Und auch mit dem Fahrrad sieht man noch recht viel. Leute in Autos sehen dagegen fast gar nichts mehr von ihrer Umgebung.
LöschenOh, tut mir leid, hab ich diesmal schlicht vergessen.
LöschenAlfons Krückmann
"freedom is untidy" sprach donald rumsfeld, nachdem er in den irak einmarschieren ließ.
AntwortenLöschenauch wenn er sonst kaum richtig lag, ist hier doch was dran: wenn alles durchreguliert ist, bleibt kaum spielraum für eigenverantwortung.
aber schon spiderman wusste "with great power comes great responsability".
dieses verantwortungbewusstsein fehlt leider mehr und mehr bei menschen mit kraftfahrzeugen. deshalb können sie ja auch nur regelmentiert, behelmt und gefesselt exisiteren. die autokonzerne wollen das übrigens auch, weil es ihren profit steigert.
wir radler hingegen, sind frei, im besten sinne harmlos und bestens trainiert. deswegen bewegen wir uns ja auch trotz all der o.g. schwierigkeiten so bequem fort und überlassen die probleme den anderen.
karl g. fahr