22. August 2023

Vision Zero ist keine unerreichbare Utopie

Der Begriff Vison Zero meint, dass im Straßenverkehr niemand mehr schwer verletzt oder getötet wird. 

In Baden-Württembrg kommt etwa jede Woche ein Radfahrer oder eine Radfahrerin ums Leben und pro Stunde passiert ein Fahrradunfall mit Personenschaden oder heftigem Sachschaden. Wir wissen, dass um so weniger Menschen im Straßenverkehr ums Leben kommen, je langsamer der Autoverkehr utnterwegs ist. Tempo 30 in Städten ist gut für Fußgänger:innen und Radfahrende und deren Angehörige, es gibt weniger Trauerfälle und Krankenhausaufenthalte (Brüssel hat im ersten Jahr die Zahl der Todesopfer halbiert). Wir Radfahrende kennen darüber hinaus das Risiko, das vom ruhenden Autoverkehr ausgeht etwa durch plötzlich geöffnete Autotüren oder rückwärts Ausparken. 

Auch indirekt stellt der Autoverkehr Gefahren für uns dar, solange Radfahrende über schlechte Radwege und enge und unübersichtliche Parkwege geschickt werden und wenn auf ihrem Schutzstreifen Schlaglöcher oder Asphaltrillen sind oder Radwege nicht von Laub oder Schnee und Eis befreit werden und Radfahrende darum ohne Fremdbeteiligung stürzen. Außerdem muss es andere Radführungen und Ampelschaltungen an Kreuzungen geben, denn viele Zusammenstöße von Autos mit Fahrrädern passieren, wenn der Autoverkehr den Radverkehr kreuzen muss. 

Doch auch wenn die Radwege alle glatt wären, wird nicht jeder Alleinunfall eines Radhfahrers oder einer Fußgängerin zu verhindern sein, auch Radler:innen oder Fußgänger:innen machen Fehler, sehen Hindernisse nicht und stürzen, zuweilen mit tödlichen Folgen. Sichere Kreuzung und eine Verlangsamung des Autoverkehr senkt die Zahl der Zusammenstöße jedoch deutlich.

Die Vision Zero ist keine unerreichbare Utopie.

2021 zeigte die Vision-Zero-Map von Dekra 1200 Städte in Europa, in denen binnen eines Jahres keine Menschen im Staßenverkehr ums Leben kamen. Zum Beispiel in Göteborg, mit einer halben Million Einwohner:innen mit Stuttgart vergleichbar. Es gibt auch 150 Städte, die seit fast einer Dekade die null Verkehrstoten halten können, darunter Siero in Spanien und Kerpen in Deutschland. Es sind vielfältige Maßnahmen, die dazu führen. Kerpen hat beispielsweise den Rad- und Autovererkehr kreuzungsarm gestaltet und Brücken und Unterführungen angelegt. Radstrecken außerhalb der Stadt haben eine LED-Beleuchtung und sind übersichtlich. Alle Radstreifen haben Radpiktogramme mit Richtungspfeilen. Straßen werden fußgängerfreundlich ausgebaut, sind beispielsweise leicht zu überqueren. Dort, wo Radfahrende und Fußgänger:innen Straßen queren, werden Autofahrende mit Fahrbahnkissen gezwungen, ihre Geschwindigkeit zu reduzieren. 

Deutlich weniger Unfälle könnten wir, ganz ohne Baumaßnahmen aber schon haben, wenn der Autoverkehr langsamer wäre. Tempo 30 in Städten (oder Tempo 130 auf Autobahnen und 80 auf Landstraßen) kostet nicht viel und hätte einen großen Effekt auf die Luftqualität und auf das Überleben von Unfallopfern. Denn Tempo 30 ist das Tempo eines Autos, bei dem Kinder nicht sterben, wenn sie mit dem Kopf gegen den Kühler knallen. Teurer ist dagegen der Umbau von Kreuzungen und Verkehrsführungen im Sinne der Sicherheit von Radfahrenden und Fußgänger:innen. 

Aber egal, ob es billig oder teuer ist, wir tun im Grunde fast nichts dergleichen. Bei den Verantwortlichen für die Abwicklung unseres Straßenverkehrs scheint die gesellschaftlich allgemein akzeptierte Auffassung zu herrschen, dass Unfälle schicksalhafter Teil unseres Straßenverkehrs sind, also im Grunde unvermeidbar sind. Sie sind sozusagen der Preis, den wir alle für die Freiheit zahlen müssen, dass Menschen mit dem Auto so schnell wie gerade noch vertretbar überallhin fahren zu können. Wobei diesen Preis nicht alle bezahlen, sondern nur die Opfer und ihre Hinterbliebenen. Für die ist die Katastrophe total, für die Mehrheit unserer Gesellschaft sind es aber nur die anderen, nicht sie selbst.

Unfälle geschehen als Einzelfälle weit über ein Gebiet verstreut. Viele stellen sich als Verkettung sehr unglücklicher Umstände oder als Ergebnis eines schweren Fehlers, den ein Verkehrsteilnehmer gemacht hat, dar (unaufmerksam, abgelenkt, alkoholisier, zu schnell gefahren, mit dem Handy gespielt etc.). Es gibt aber auch typische Unfälle, die sich teils an denselben Stellen wiederholen. Dazu gehören die Abbiegeunfälle, also wenn ein Mensch im Auto über einen Radweg hinweg abbiegen will und dabei einen Radfahrer, der Vorrang hat, anfährt. Sie sind das Ergebnis einer gefährlichen Verkehrsstruktur, die man ändern muss. Grundsätzlich wird es gefährlich für Fußgänger:innen und Radfahrende, wenn Autofahrende ihre Richtung ändern wollen, dies in höherem Tempo tun dürfen und dabei von komplexen Situationen (vielen Schildern, Radstreifen, Zebrastreifen, Ampelgrünphasen etc.) offensichtlich überfordert sind. 

Mir scheint, ob wir entschlossen Maßnamen ergreifen, um schere Zusammenstöße verhindern, hängt auch damit zusammen, wie wichtig uns die Menschen sind, um die es geht. Die Autoindustrie hat in den letzten Jahrzehten sehr viele Systeme entwickelt, um die Insassen von Autos vor den Folgen der Crashs zu schützen, die sie verursachen, angefangen bei Bremshilfen bis hin zu Airbags und elektronischer Einschlafwarnung. Autofahrende sind Kund:innen, die bei der Autoindustrie viel Geld lassen. Der Autoindustrie geht es aber nicht darum, ihre Autos so auszustatten, dass andere vor deren Gewicht, hohen Geschwindigkeiten oder den Fehlern ihrer Fahrer:innen geschützt werden. Und die Politik fordert das auch nicht ein. Für die Autoindustrie und die Politik sind Menschen, die nicht im Auto unterwegs sind, wie es aussieht, weniger wichtig. Ihnen wird auch stets eine Mitverantwortung zugesprochen, sie werden unermüdlich ermahnt, dem Autoverkehr aus dem Weg zu gehen, auf die Vorfahrt zu verzichten und reflektierende Kleidung zu tragen, Radfahrenden wird noch empfohlen, Helme aufzusetzen. Die Verantwortung wird so auf die Opfer übertragen, die Täter:innen sprechen sich frei. 

Wir könnten deutlich mehr tun, um schwere Unfälle zwischen Autofahrenden, Fußgänger:innen und Radfahrenden zu verringern. Dazu müssten wir allerdings zunächst einmal anerkennen, dass Änderungen der Geschwindigkeit, Ampelschaltungen und Änderungen der Verkehrsführung für Fahrräder und Autos helfen würden. Und indem man zweitens tatäschlich eine für Autos bequeme Verkehrsführung so ändert, dass sie für Radfahrende oder Fußgänger:innen ungefährlich wird, auch wenn sie dann für Autofahrende unbequemer oder langsamer wird. Das setzt aber den politischen Willen voraus, Unfälle nicht als schicksalhaft und individuell anzusehen, sondern als Folge bestimmter systemischer Fehler. Im Straßenverkehr haben kleine Fehler oft große Folgen. Die Infrastruktur muss grundsätzlich so organisiert sein, dass sie kleine Fehler verzieht. 

Nicht tolerieren sollte man jedoch die absichtlichen Fehler, die Verstöße gegen die Verkehrsregeln, die andere schützen sollen, vor allem bei den Fahrer:innen schneller gepanzerter Fahrzeuge (Autos) konsequent kontrolliert und mit Bußgeldverfahren belegt. Zu den für andere riskanten Regelverstößen gehören: Rotlichtversöße, Telefonieren mit dem Handy in der Hand, Geschwindigkeitsüberschreitungen, nicht Blinken vor dem Abbiegen, Wendemanöver, Anhalten auf Radstreifen, enges Überholen und Falschparken an unübersichtlichen Ecken oder auf Rad- und Gehwegen. 



 

 

11 Kommentare:

  1. sehr guter beitrag, liebe ftau lehmann.
    man wird ihnen mit blumeigen worten deindustriealisierung vorwerfen und auf den heilsbringer autonomes fahren verweisen.
    das haben piech und co schon verschlafen und müssen jetzt bei elon einkaufen.
    vielleicht schlagen ja auch wir bald windschutzscheiben ein. so wie in zimbabwe und anderswo:

    https://www.newyorker.com/news/letter-from-silicon-valley/robo-taxis-are-legal-now

    karl g. fahr

    AntwortenLöschen
  2. Die Politik ist, im Verkehr wie anderswo, immer noch die des neoliberalen thatcherschen TINA (There is No Alternative), also des angeblich naturgesetzartigen Status Quo. Niemand stellt den motorisierten Verkehr mal ganz grundsätzlich im Frage. Auch nicht in den genannten Städten.

    Gestern war ich in Freiburg. Schön wie die Innenstadt nun nach langen Jahren der Baustellen in großen Teilen verkehrsberuhigt ist, u.A. mit Fahrradstraßen (es war alllerdings wie immer nicht ganz klar, wieviele der Autofahrer die wirklich kapiert haben). Aber auf der B31 donnert der Verkehr weiterhin und intensiver als zuvor, mit einem großen Anzeil schwerer LKWs mitten durch die Stadt, entstehen durch Baustellen kilometerlange Staus.

    Die Hitze war unerträglich, aber das System motorisierter feiert nach wie vor fröhliche Urständ, wir rasen unverändert in den Abgrund.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. das System motorisierter Verkehr

      Löschen
    2. Dann stellen Sie doch mal bitte den motorisierten Verkehr grundsätzlich infrage. Ihr Konzept würde mich interessieren.

      Löschen
    3. Es geht nicht darum, den gesamten motorisierten Verkehr abzustellen. Ich selbst bin ja froh, eine 16T schwere Maschine nicht auf dem Fahrrad transportieren zu müssen.
      Meiner Ansicht nach gibt es gerade aber viel zu viel motorisierten Verkehr. Die meisten Wege mit dem KFZ sind unter 10km, zum Einkaufen oder zur Arbeit. Ein Auto steht durchschnittlich 23h am Tag herum, i.d.R. auf Kosten der Allgemeinheit in der Öffentlichkeit.
      Platzmangel, Gesundheitsschäden durch Feinstaub, Mikroplastik durch die Reifen, CO2-Ausstoß, Energieverbrauch und Lärm sind Probleme, die durch den KFZ-Verkehr entstehen. Selbst E-Fahrzeuge können nicht all diese Probleme lösen.
      Mein Lösungsvorschlag kurz erklärt wären: mehr Carsharing, die Kosten eines PKWs so hoch machen, wie sie real sind, ausgebauter ÖPNV, möglichst viel zu Fuß oder auf dem Rad in 15min erreichbar und attraktive Fahrradstrecken.
      In Dänemarkt ist man da schon weiter als in Deutschland und man sieht, dass es etwas bringt. Der zuständige Verkehrsplaner von Kopenhagen hat mal zum Verkehr gesagt, eine Stadt bekäme den Verkehr, den sie sich einlädt, und so sehe ich das auch.

      Löschen
    4. Für ausführlichere Informationen lesen Sie bitte ältere Artikel von diesem Blog, da werden häufiger Alternativen beschrieben zum KFZ und Probleme, die es dazu noch gibt.

      Löschen
    5. Das ist immer ein Standardargument, aber es geht eben nicht um alles oder nichts. Es geht überhaupt nicht darum, das Auto abzuschaffen und durch Fahrräder zu ersetzen. Das ist ein unfreundliches absichtsvolles Missverständnis. Auch in diesem Artikel hier geht es nur darum, zu überlegen, ob der Autoverkehr in Innenstädten nicht deutlich langsamer unterwegs sein sollte und ob auf Autobahnen nicht auch eine Geschwindigkeitsbegrenzung gelten sollte, um die Zahl der durch den Autoverkehr getöteten und schwer verletzten Menschen zu verringern. Und es geht auch immer wieder um die Frage, ob weniger Autos in Innenstädten nicht dazu beitragen könnten, dass sie Städte lebenswerter werden und mehr Menschen zu Fuß und mit Fahrrädern unterwegs sind, was dem lokalen Handel extrem helfen würde. Um alles oder nichts geht es nie, es geht immer um Mittelwege zum Wohl aller.

      Löschen
    6. Für mich steht im Kommentar eindeutig, dass niemand den motorisierten Verkehr grundsätzlich infrage stellt. Ich hatte lediglich nach dem (alternativen) Konzept gefragt. Was ist daran bitte unfreundlich?

      Löschen
  3. Fast alles richtig. Aber der Personenaufprallschutz ist ein Bsp wo Politik, und dann eben die Audoindustrie, etwas verbessert haben.
    ... Motorhaube...Bremsssistenten... zb.
    Ansonsten: wie und wo sollte man sich denn in Stgt engagieren, um zur Veränderung mitzuwirken?
    Mfg
    T. Großhans

    AntwortenLöschen
  4. Bei alldem ist auch zu berücksichtigen, dass Praxis von überzogenen und potentiell tödlichen Geschwindigkeiten eine bewußte politische Entscheidung darstellen.
    Im Bereich der Arbeitsicherheit wäre das undenkbar. So sind zB Papiercutter zwingend mit zwei Händen zu starten, so dass keine Finger abgetrennt werden können. Eine zwar hinderliche und nervige aber sehr sinnvolle Schutzmaßahme.
    Bei Autos könnten seit zig Jahren mit relativ geringem Aufwand Tempomaten per StVZO verpflichtend sein, die Geschwindigkeitsüberschreitungen zuverlässig und ortsscharf durch automatisches Bremsen bzw. Nichtbeschleunigen verhindern. Das betrifft dann zwar nicht alle unangemessen hohen Geschwindigkeiten, aber zumindest schonmal die Überschreitung der per VZ angeordneten Höchstgeschwindigkeiten.
    Solche humanitären Selbstverständlichkeiten sind aber nach wie vor nicht implementiert, egal wie viel tausende Menschenleben durch diese absichtliche Gewährung des Rasens zu Tode kommen oder dauerhaft verstümmelt oder querschnittsgelähmt werden.
    Es ließen sich noch etliche andere staatliche Mittäterschaften aufführen, aber im Grunde wissen wir ja alle längst, dass das Automobil nach wie vor auf allen Ebenen Vorfahrt vor Mensch, Tier und 'Umwelt' hat.
    Alfons Krückmann

    AntwortenLöschen