24. August 2023

Die Katze auf dem Radweg

Als ich an einem Samstagvormittag Richtung König-Karls-Brücke radelte, sah ich diese Katze auf dem Radweg rekeln. Sie genoss es. 

Ich fuhr sehr langsam, weil ich Angst hatte, dass sie im letzten Moment erschrocken aufspringt. Das tat sie aber nicht. Der nächste Radler kam und fuhr vorbei. Eine Fußgängerin bestaunte die Szene. 

Die Katze hatte offensichtlich keine Angst vor den Radler:innen, sie war sich sicher, dass sie gesehen wird und man an ihr vorbei fährt. Ähnlich verhalten sich auch die Graugänse und Nilgänse im Schlossgarten. Sie stehen auf dem Geh-/Radweg herum und alle Radfahrenden fahren links und rechts an ihnen vorbei, ohne dass sie flattern oder flüchten. Sie wissen, dass Radfahrende sich nach ihnen richten. Die Reaktionen von Fußgänger:innen auf Radfahrende sind oftmals nicht so gelassen. Eine nicht geringe Zahl glaubt nicht, dass sie von uns Radfahrenden gesehen und nicht über den Haufen gefahren wird. Ich will nicht ausschließen, dass Fußgänger:innen oder Radfahrende die Gänse im Schlossgarten auch mal zum Flattern bringen, und es gibt durchaus Zusammenstöße zwischen Fußgänger:innen und Radfahrenden, allerdings extrem viel weniger als die von Autos mit Fußgänger:innen. 

Für Fußgänger:innen sind wir zu schnell unterwegs. Etliche fühlen sich gefährdet und bedroht, auch weil sie die Radfahrenden nicht gesehen und nicht haben kommen hören, oder weil er oder sie zu eng an ihnen vorbeigefahren ist. Sie erschrecken und ärgern sich. Dieser Konflikt entsteht nur, weil die Stadt (und viele andere Städte auch) Radfahrende und Fußgänger:innen auf engen gemeinsamen Flächen zusammensperrt. 

Beide Verkehrsarten passen aber nicht zusammen. Tatsächlich sind die Geschwindigkeitsunterschiede von Radfahrenden zu Fußgänger:innen (etwa auf gemeinsamen Geh- und Radwegen) höher als die zwischen Radfahrnden und Autofahrenden auf gemeinsamen Fahrbahnen in Tempo-30-Zonen oder bergab auf Tempo-40-Straßen. Ein Radfahrer fährt mit für ihn nicht sonderlich schnellen 20 km/h bereits mindestens viermal so schnell wie ein Fußgänger geht, während ein Auto an einem Radler, der 20 bis 25 km/h fährt bei 30 bis 40 km/h nur mit rund der 1,5-fachen Geschwindigkeit vorbei fährt. Diese Geschwindigkeitsunterschiede erzeugen Stress bei Fußgänger:innen. Wir hören dann immer, die Radler:innen könnten doch hier und dort auch mal langsam fahren. Allerdings befinden sich die Radfahrenden auf ihren Berufs-Pendlerwegen - für die man ihnen leider keine gesonderten Radwege gibt - und von Autofahrenden erwartet man ja auch nicht, dass sie auf ihrem Arbeitsweg oder Einkaufsweg vier bis fünf Mal Schrittgeschwindigkeit fahren, obgleich auch sie es könnten. 

Hinzu kommt, dass sich Missverständnisse zwischen Radfahrenden und Fußgänger:innen etablieren, die kaum aufgelöst werden können, weil man einander nicht zuhört. Blogleser B. erzählte mir, er sei auf dem Neckardamm beim Parkhaus Mühlgrün unterwegs gewesen. Das ist ein für Radfahrende nur freigegebener Gehweg, Fußgänger:innen haben Vorrang, weshalb man sie nicht wegbimmeln sollte (was leider viele Radfahrende nicht wissen). Zwei Frauen mit zwei Kinderwagen und einem kleinen Kind, das neben ihnen lief, waren auf ganzer Breite unterwegs. Blogleser B. kam von hinten und bremste ab. Er sah, dass ein Radler entgegenkam. Auch der bremste ab und hielt schließlich an, als er sah, dass das kleine Kind ihm genau vors Rad laufen würde. Erst jetzt wurde die Mutter aufmerksam. Obgleich nichts geschehen war, beschimpfte sie den Radfahrer, der angehalten hatte: "Idiot! Das ist Fußgänger und Radfahrer, passen Sie doch auf!" Genau das hatten beide Radfahrer getan. Dennoch konnte sich die Mutter nicht beruhigen.  

Ich hatte eine ähnlich Begegnung an einem Sonntag im Schlossgarten. Ein Elternpaar mit Kinderwagen und einem Kind auf einem kleinen Fahrrad belegten die Hälfte des Weges, entgegenkommende Fußgänger:innen die andere. Ich näherte mich der Familie von hinten, bremste auf Schrittgeschwindigkeit ab und blieb dahinter. Schließlich musste ich anhalten, weil das radelnde Kind diagonal fuhr. Das war alles okay für mich. Das Elternpaar bemerkte mich aber erst, als ich anhielt, und die Frau pampte mich an: "Warum fahren sie nicht da drüben (sie meinte die Platanenallee) auf dem Radweg?" Ich erkläre ihr, dass das da drüben genauso wie hier ein gemischter Geh- und Radweg ist und alle aufeinander achten müssten. Hatte ich ja auch getan. Die Mutter war dennoch wütend und fluchte mir hinterher. 

Eigenartig. Nichts ist passiert, nichts war kritisch, kein Kind war in Gefahr. Und trotzdem wurden die Radfahrenden in diesen Fällen beschimpft. 

Ich kann mir das nur so erklären: Offenbar halten Verkehrsteilnehmer:innen andere ungern auf. Wenn jemand wegen ihnen bremst, haben sie ein schlechtes Gefühl. Es ist das gleiche Gefühl, dass Radfahrende dazu bringt, auf einen Gehweg zu flüchten, wenn sie einen Autofahrer lange langsam hinter sich fahren gehört haben. Ich vermute, dass wir uns in solchen Momenten daran erinnern, wie wir selbst oder wie andere Fahrer (während wir daneben saßen) auf eine "Schlafmütze" vor ihm geschimpft haben. "Warum fährt der nicht, ist doch frei! Trottel!" Und Trottel wollen wir selber nicht sein. Deshalb starten wir mit dem Auto auch mal riskant in eine Lücke in einen Kreisverkehr hinein, nur damit der hinter uns nicht denkt: "Worauf wartet der Trottel noch?" Und wenn nun zwei Radfahrende bremsen und anhalten, weil wir selbst nicht gleich Platz gemacht oder die Kinder nicht an uns gerissen haben, dann erleben wir dieses Bremsen und Anhalten der anderen als Vorwurf an uns selbst, weil wir im Weg waren, nicht aufgepasst haben oder nicht schnell und wachsam waren. Und diesen Vorwurf finden wir außerdem ungerecht. Und dann pampen eine Fußgängerin die Radfahrrin mal kurz an, um ihnen zu signalisieren, dass sei bloß nicht denken sollen, sie seien hier im Recht. Und auch, weil sie sich ärgert, dass auf diesen Parkwegen überhaupt Radfahrende unterwegs sind, was ich gut nachvollziehen kann.  (Kommunikation ist schon ziemlich kompliziert.)

Dabei sind Fußgänger:innen nach meiner Erfahrung eigentlich die nettesten Verkehrsteilnehmer:innen. Sie sind meistens extrem freundlich und zuvorkommend, sie machen auf Gehwegen freundlich Platz, auf denen wir gar nicht radeln dürfen, sie laufen um Autos herum, die auf Gehwegen stehen, sie rennen sogar über Zebrastreifen, wenn wir angehalten haben, nur um uns nicht aufzuhalten. Sie sind großzügig, wenn sie uns Wegerechte einräumen können, die uns Radfahrenden gar nicht zustehen. Und  ich kann mit ihnen auch leicht ins Gespräch kommen, mich bedanken, sie anlächeln und ein Lächeln bekommen, eine Bemerkung machen, und dann freuen sie sich und ich freue mich. 

Anders ist es, wenn wir Radfahrenden Fußgänger:innen auf Radwegen anbimmeln. Wenn ich dann noch erklärend sage: "Das ist ein Radweg, gehen Sie doch da drüben!", dann kriege ich oft böse Worte zu hören. Vielleicht verständlich, wenn man sich klarmacht, dass sich Menschen ungern von anderen bei einem Fehler ertappen lassen, den sie eigentlich gar nicht begehen wollten. Wir gehen gerne fehlerfrei durchs Leben. Da ist es egal, ob wir Auto fahren, Rad fahren oder zu Fuß gehen. Pampig bis unflätig reagieren Radfahrende, wenn eine Fußgängerin ihnen sagt, dass sie auf diesem Gehweg nicht radeln dürfen, oder ein Autofahrer, dem ein Radfahrer sagt, dass er zu knapp überholt hat oder  nicht auf dem Radweg parken darf, oder ein Mensch zu Fuß, der angebimmelt wird, weil er auf der Fahrradstraße oder dem Radweg spaziert. Die meisten werden ziemlich aggressiv, wenn sie im Unrecht sind. Wobei wir, nebenbei bemerkt, eigentlich die Menschen bewundern, die einen Fehler zugeben und um Entschuldigung bitten können.   

Es steht außer Frage, dass Fahrräder etlichen Menschen zu Fuß Angst machen. Manche Menschen sagen, sie hätten Angst, eine Fahrradstraße zu überqueren, auf der fast alle langsamer als 25 km/h fahren. Sie finden aber nichts dabei, eine Autostraße zu überqueren, auf der knapp über 30 km/h gefahren wird. Fahrräder, die 25 km/h (seltener auch mal 30 km/h) fahren, werden als rasend schnell empfunden, Autos, die 30 fahren, als langsam. Wir reden gern von "rasenden Radlern" und überschätzen dabei ihre Geschwindigkeit maßlos. Einer hat mir mal erklärt, der führe mit 40 km/h durchs Gerber, zwei Frauen fanden, die Rennradlerin sei bestimmt 30 gefahren, dabei fuhr sie so schnell wie ich, nämlich mit 17 km/h an ihnen vorbei. Dass wir Radfahrende als so rasend schnell empfinden, hängt mit der Geschichte zusammen: Das Laufrad fuhr 1820 schon 13 km/h und war damit schneller als jede Kutsche und unvorstellbar viel schneller als Fußgänger:innen. Und es war leise und schmal, tauchte plötzlich auf, machte die Kutschpferde scheu und erschreckte die Fußgänger:innen, in einer Verkehrswelt, in der Schrittgeschwindigkeit vorherrschte. Da wir Radfahrende traditionell bis heute eher im Raum der Fußgänger:innen sehen als im Autoverkehrsraum, hat sich die Erfahrung gehalten: Radfahrende sind im Vergleich zur Schrittgeschwindigkeit zu schnell, sie sind zu leise, und sie kommen überfallartig und lassen Menschen zu Fuß keine Zeit zu reagieren. Die Katze auf dem Radweg hat diese Erfahrung nicht gemacht. Sie weiß, das Menschen keine Katzen überfahren (auch Menschen in Autos bremsen). 

Spätestens jetzt dürfte dies der Moment sein, wo sich einige Leser:innen dieses Blog-Posts vornehmen, mir in ihren Kommentaren zu erklären, dass Radfahrer eine Pest seien, weil sie über Zebrastreifen rasen, man als Fußgänger:in seines Leben im Schlossgarten nicht sicher sei, dass Radfahrer immer bei Rot führen, ständig auf Gehwegen unterwegs seien und es darum einen Fahrradführerschein und Kennzeichen geben müsse. Das ist dann wiederum Teil dieser ungeheuren Emotionalisierung, die das Fahrrad und ihre Fahrer:innen in unserer Verkehrswelt auslösen. Nicht weil wir real mehr Regeln verletzen würden als alle anderen (das ist nämlich nicht der Fall), sondern - denke ich - weil wir im falschen Verkehrsraum unterwegs sind, nicht immer auf den Fahrbahnen, sondern viel zu oft auf den Wegen, wo Menschen zu Fuß gehen, auch wenn wir das gar nicht wollen. 

Aber das ist es nicht allein. Ich sehe immer wieder eine Person am Bordstein eines Zebrastreifen stehen, die mir entgegen schaut, aber nicht losgeht. Ich habe längst aufgehört zu treppeln und die Hände an den Bremsen. Doch sie geht nicht los. Dabei haben wir uns doch gegenseitig gesehen, sie könnte einfach losgehen und ich rolle dann hinter ihr vorbei. Aber nein. Sie scheint zu erwarten, dass ich mit dem Fahrrad bis zum Stillstand anhalte, so wie sie es von Autofahrenden kennt. (Die Regel ist übrigens die, dass Menschen in Fahrzeugen Fußgänger:innen, die zu erkennen geben, dass sie einen Zebrastreifen überqueren wollen, ihnen dies ermöglichen müssen.) Inzwischen winke ich oder rufe der wartenden Person im Heranrollen zu: "Ich habe Sie gesehen, gehen Sie ruhig." Dann klappt das. 

Rad- und Fußverkehr können sich eigentlich problemlos durchqueren. Sowohl Fußgänger:innen als auch Radfahrende brauchen so wenig Platz, dass im Kreuzungsverkehr weder der eine noch der andere anhalten muss. Es passiert mir, wenn ich langsam rolle oder anhalte, auch immer wieder, dass eine Fußgängerin (Männer fast nie) über den Zebrastreifen hastet oder sogar rennt, nur um mich nicht aufzuhalten. Das tut mir dann leid, denn es ist völlig in Ordnung für mich, wenn sie in ihrem Tempo rüber gehen, ist doch der Zebrastreifen der Teil einer Fahrbahn, auf dem sie uneingeschränkt Vorrang vor dem Fahrverkehr haben.

Ganz schlecht ist es aber, wenn Radfahrende noch knapp vor der Person, die den Zebrastreifen betreten hat, durchrauschen. Das kommt leider auch immer wieder vor. Und genau das erzeugt viele Beschwerden über "rücksichtslose Radfahrer". Deshalb stand am Freitag, dem 26. Juli, die Polizei am Zebrastreifen auf der Tübinger Straße beim Karlsgymnasium. Und sie hat mich rausgewinkt. Denn ich war auf den Zebrastreifen zugerollt, während ein Mann auf dem Gehweg ging und sich dem Zebrastreifen zuwandte. Der Mann und ich, wir haben uns angeschaut, er nickte, ich fuhr, mein Abstand zu ihm (der noch nicht auf die Straße getreten war) war ungefähr anderthalb Meter. Aber eine Polizistin und ein Polizist sprangen hinter einem geparkten Auto hervor und hielten mich an. Ob ich wisse, was ein Zebrastreifen sei. Es war offensichtlich, dass sie von mir erwarteten, dass ich zum Stillstand anhalte, auch wenn der Fußgänger den Bordstein noch gar nicht erreicht hat. Ich erklärte der Polizei: "Aber wir (der Fußgänger und ich) haben uns doch mit Blicken verständigt." Dann hörten wir alle, wie eine Radfahrerin eine Vollbremsung hinlegte, weil ein Fußgänger vor ihr den Zebrastreifen querte. Sie schaffte es gerade noch anzuhalten und war für die Polizei damit interessanter als ich. (Diese Aktion hat übrigens keinen Niederschlag in der Presse gefunden.) Ich habe mir hinterher überlegt, dass ich vermutlich noch zuvorkommender radeln muss, als ich es an Zebrastreifen ohnehin schon tue, denn Menschen zu Fuß und solche, die nur in Autos fahren, verstehen überhaupt nicht, dass Fahrräder keine Autos sind. 

Sprechen statt Klingeln. Immer wieder unterhalte ich mich mit anderen Radfahrer:innen darüber, ob man eigentlich besser klingelt oder besser nicht klingelt. Denn wir alle haben die Erfahrung gemacht: Wie man es macht, ist es falsch. Radle ich eine Weile langsam hinter Fußgänger:innen her, weil wir uns auf einem nur freigegebenen Gehweg befinden, und entdecken sie mich schließlich, dann schimpft einer: "Klingeln Sie doch!" Andererseits, wenn ich auf einem gemischten Geh- und Radweg klingle, dann sehe ich immer wieder, dass die Fußgänger:innen vor mir verärgert und gestresst ihre Körper anspannen. Ich sehe sie förmlich denken: "Scheiß Radler!". Ich war selber mal zu Fuß unterwegs und ging auf der rechten Wegseite, als es hinter mir klingelte. Okay, Radler, die wollen vorbei, die haben auch den Platz, dachte ich. Als es dann noch mal bimmelte, wurde ich selber wütend. Diese hellen Fahrradklingeln besänftigen nicht, sie sagen nicht "da kommt ein Radler", sie klingen aggressiv und fordernd, und das macht aggressiv. Ich bin inzwischen dazu übergegangen, die Leute von hinten relativ leise anzusprechen. Ich sage dann: "Ich würde jetzt mal links an ihnen vorbei fahren." Das funktioniert viel besser. Ich kann mich dann noch bedanken, und niemand wird wütend. Der Vorteil von Radfahrenden (gegenüber Autofahrenden) ist ja, dass sie sich mit allen Menschen, die nicht im Auto unterwegs sind, mit Worten in normaler Lautstärke verständigen können.  

Wenn es dieses Konfliktfeld aber nun mal gibt, dann kann die politische Konsequenz nur lauten: Radfahrende und Fußgänger:innen dürfen niemals auf denselben Flächen untergebracht werden. Der Radverkehr muss vom Fußverkehr getrennt verlaufen. Das wissen Stadtplaner:innen und Politiker:innen eigentlich ganz genau, aber die Wirklichkeit ist nicht so. Der Autoverkehr und seine ideologischen Befürworter:innen wehren sich vehement dagegen, dass dem Radverkehr Raum auf der Fahrbahn gegeben wird. Deshalb wird der Rad- und Fußverkehr auf dem verbleibenden kleinen Raum zusammendrängt, beispielsweise im Schlossgarten oder auf dem Neckardamm. Obgleich nur ungefähr jeder dritte Weg (ca. 33 Prozent) an einem Tag in einer Stadt mit dem Auto zurückgelegt wird, belegen fahrende und parkende Autos 60 Prozent unserer Verkehrsflächen. Fußgänger:innen haben 33 Prozent, Bahnen und Busse belegen etwa 6 Prozent, während Radfahrende (ca. 14 Prozent im Modal-Split in Stuttgart) sich auf 3 Prozent der Flächen drängen. Das heißt, eine Auto fahrende Minderheit beansprucht für sich den meisten Platz, denn auch die Besitzer:innen von Autos stellen in Stuttgart nicht die absolute Mehrheit dar. Doch statt dass wir uns über den aggressiven Platzverbrauch von Autofahrer:innen aufregen, beschimpfen wir an den Rand Gedrängten, Marginalisierten und Zusammengesperrten uns gegenseitig. Und ganz schnell einigen sich dann die Autofahrenden und zu Fuß Gehenden darauf, dass die Radfahrer:innen eine Pest sind. 

Und damit kommen wir zu dem, was Radfahrende dringend verstehen müssen. Kürzlich radelte ich mit einer Bekannten vom Steg über der Cannstatter Straße in den unteren Schlossgarten. Sie ließ ihr Rad rollen und schoss bergab. Ich bremste hinterher, denn da gingen zwei Menschen zu Fuß. Meine Bekannte hielt zwei Meter Abstand zu ihnen. Ich machte sie, nachdem ich sie eingeholt hatte, darauf aufmerksam, dass sie mit vielleicht 30 km/h an zwei Fußgänger:innen vorbei gefahren war. "Aber die habe ich doch gesehen", sagte sie. Ja, aber du bist mit der sechsfachen Geschwindigkeit an ihnen vorbeigeschossen. Auch der Autobahnraser, der mit 600 km/h (realististischerweise 300) auf der Autobahn an dir vorbeiknallt, während du 100 km/h fährt, hat dich gesehen, aber du erschrickst trotzdem zu Tode. Genau das machen sich viele von uns nicht klar. Wir halten zu wenig Abstand und fahren zu schnell an Fußgänger:innen vorbei. Radverkehr erzeugt  generell Stress bei allen Fußgänger:innen (auch bei denen, die scheinbar gelassen bleiben), das sollten wir immer bedenken. 

Einigen ist leider auch überhaupt nicht bewusst, dass sie mit ebendiesen Geschwindigkeiten (13 bis 20 km/h) auch auf Gehwegen radeln, die für Radfahrende nur freigegeben sind. Eigentlich muss da nämlich Schrittgeschwindigkeit gefahren werden. Zum Beispiel auf dem Neckardamm. Schrittgeschwindigkeit ist zwar unrealistisch, aber auf freigegebenen Gehwegen bimmeln und eng an Fußgänger:innen vorbei sausen, ist nicht nur verboten, sondern auch ausgesprochen unfair den Menschen zu Fuß gegenüber.  Verkehrszeichen lesen und sich danach richten, ist genau dann wichtig, wenn wir schneller sind als die, mit denen wir auf solchen Flächen zusammentreffen. Von Autofahrenden erwarten wir ja auch, dass sie wissen, welche Regeln uns gegenüber gelten. Auch auf ausgewiesenen Geh- und Radwegen (blaues Schild) müssen wir Rücksicht auf die Fußgänger:innen nehmen, die wiederum uns auch Platz zum Fahren lassen müssen. 

Alle, die diesen Blog lesen, wissen, dass ich das routinemäßige Radeln auf nicht freigegebenen Gehwegen nicht tolerabel finde. Das ist wie mit dem Auto auf Radwegen parken oder Radler:innen auf Fahrbahnen anhupen. Klar kann man sich mal in unbekannter Gegend auf einer undurchsichten Radinfrastruktur verirren oder an einer Baustelle ohne Umleitung landen, wo nur noch der Gehweg der Ausweg ist, aber über den kann man oft auch in paar Meter schieben oder eben tatsächlich Schrittgeschwindigkeit radeln (manchmal nimmt ein fahrenderRadler weniger Platz im Begegnungsverkehr ein, als einer, der sein Fahrrad schiebt). Die meisten Fußgänger:innen sind extrem nachsichtig mit Radfahrer:innen auf Gehwegen und in Fußgänerzonen. Sie ärgern sich aber darüber, wenn Radfahrende so tun, als sei das ihr gutes Recht, wenn sie zu schnell fahren und dann auch klingeln und pampig werden. Schließlich müssen Menschen zu Fuß irgendwo in der von Fahrzeugen beherrschen Stadt auch Wege haben, wo sie herumstehen, schlendern und schusseln können, ohne ständig aufpassen zu müssen. Und das sollten wir wirklich respektieren. 

Die Grundregeln für Radfahrende lauten: 

  • Auf Gehwegen und in Fußgängerzonen herrscht Radel-Verbot. 
  • Wenn sie per Fahrrad-Zeichen freigegeben sind, dann muss man da sehr langsam und extrem zuvorkommend gegenüber Fußgänger:innen fahren. 
  • An Zebrastreifen haben Fußgänger:innen Vorrang. 
  • Auch Fußgänger:innen wollen nicht knapp überholt werden, auch sie haben Angst vor Kollisionen. 

Und zum Schluss: Weder wir Radfahrenden noch wir Fußgänger:innen haben darum gebeten, dass man uns am Straßenrand oder in Parks auf gemeinsame Flächen sperrt, nur damit der Autoverkehr keinen Platz für den Radverkehr hergeben muss. Die Politik hat das aber sehr geschickt gemacht. Denn nicht gegen den Autoverkehr auf viel zu großen Flächen richtet sich der Zorn der Fußänger:innen, sondern gegen Radfahrende. Teile und herrsche (divide et impera!), nennt man diese Strategie. Sorge dafür, dass deine Gegner sich nicht verstehen und gegenseitig bekämpfen. Und wenn man Radfahrende immer wieder unter Fußgänger:innen mischt, dann sorgt man dafür, dass die beiden benachteiligten Verkehrsarten in Konflikte geraten und sich nicht mögen. Und solange die damit beschäftigt sind, aufeinander zu schimpfen, kämpfen sie schon nicht gemeinsam gegen die Übermacht des Autoverkehrs auf unseren Straßen.

8 Kommentare:

  1. Freigegebene Gehwege sind die Pest. Die wenigsten Radfahrer fahren Schrittgeschwindigkeit. Die muss man nach STVO immer fahren, egal ob Fußgänger da sind oder nicht. Ich habe mir angewöhnt dort prinzipiell nicht zu fahren, auch auf die Gefahr hin, von Autofahrern auf den "Radweg" hingewiesen zu werden. Diskussionen über das Thema beende ich mit den Worten, dass man halt zur Polizei fahren solle, um sich dort die Verkehrsregeln erklären zu lassen. Das hat noch immer geholfen. Ich bin da mittlerweile drastisch. Es fahren einfach zu viele da draußen rum, die keinerlei Ahnung von irgendeiner Verkehrregel haben, egal welcher Verkehrsteilnehmerart.
    Wenn ich als Fußgänger unterwegs bin, kann ich Radfahrer, die einen auf einem freigegebenen Gehweg anklingeln, auch nicht leiden. Wenn sie dann noch aus der falschen Richtung kommen und einen beschimpfen, dass man auf dem "Radweg" Platz machen soll, erst recht nicht. Da werde ich recht drastisch.
    Beim Thema Zebrastreifen habe ich mit Fußgängern kein Problem, ich halte halt einfach, wie mit dem Auto, an. Süß war die Oma mit Rollator, die gemeint hat, ich solle doch fahren, nicht dass ich noch von den Autos überfahren werde. Sie durfte trotzdem gehen und ich habe gewartet, bis sie drüben war, dass sie nicht angefahren wird.
    Karin

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  2. Jörg
    Das FussgängerInnen einen auf eine freigegebenen nicht vorbei lassen sollen, ist mir neu. Nicht vorbeilassen ist für mich ein totales No-Go und damit eine Form der Eskalation aus dem Nichts.
    Toll das der Radweg am Killesberg ein Fussweg Rad frei wurde. Während der Bauphase stand ein Schild da, das ein Radweg mit Förderung des Regierungspräsidium gebaut wird. Die Straße ist stark befahren. Eine Radweg gehört nach den Regeln dort hin. In der Praxis läuft es auch so, als wenn es ein kombinierter Rad-Fußweg wäre. Einige Schüler radeln dort. Wollt ihr die wirklich zwischen die Autos schicken oder 2 km mit Schrittgeschwindigkeit schleichen lassen. Sorry - wer schlechte Regeln macht, kann nicht erwarten das so ein Murks akzeptiert wird.
    Mütter die ungerecht meckern, sind in der Kategorie Kampfmutti und in der Schublade Egoist ein zuordnen. Die nerven sogar auf dem Spieli die anderen Eltern.

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    1. Eigentlich, lieber Jörg, wollte ich nicht gleich wieder soviel Zorn auf andere und damit einhergehende Negativ-Zuschreibeungen auslösen. Es geht doch eher darum, dass wir verstehen, warum sich Menschen wie verhalten. Klar, die Verkehrsregeln für Radfahrende sind wie Pest oder Cholera, es sind unerfüllbare Bedingungen, geradezu so, als wolle man uns in der Illegalität halten (z.B. auf freigegebenen Gehwegen), damit man eine Handhabe hat, wenn es zu einem Unfall kommt.

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    2. Jörg
      Die gegenseitige Rücksichtnahme ist das wichtigste. Sei es klingeln oder dezent unauffällig vorbeifahren auf der einen Seite und auf der Seite von FussgängerInnen einen Fahrweg frei halten und sich eindeutig verhalten. Eindeutig verhalten ist bei mir links oder rechts gehen, eben nicht in der Mitte. Das habe mir angewöhnt und es funktioniert ganz gut.
      Welche Rechtsform auf der Fläche gilt lasse ich dabei außer acht. Bekanntlich ist die StVO nicht für Rad- und Fussverkehr gemacht. Fairness untereinander ist das einzige was hilft.

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  3. Jörg
    Wir haben in Stuttgart und anderswo offizielle Radrouten die Fußweg Rad frei sind. Wir haben leider keine Klagerecht, um das zu ändern.
    Das Stück auf der rechten Neckarseite, flußaufwärts ab der Rosensteinsteinbrücke ist gefühlt ein Radweg, wo auch Fussgänger sind. Es sind laut Stadt Stuttgart scheinbar Hauptradrouten. Dennoch ist die Rechtsform Fussweg Rad frei. Wie soll man bitte solche Gesetze respektieren und dort Schritt fahren? Eigentlich müsste der Gesetzgeber (der letzte ist immer das Amt für öffentliche Ordnung) da einen Polizisten mit Radarpistole hin stellen.
    Der Weg hat eine andere Charakteristik als wie z.B. auf der linken Neckarseite beim Voltasteg. Dort sehe ich es mehr als Fussweg wo man vorsichtig Rad fahren kann.
    Man muss es akzeptieren: Es gibt kein Recht auf Radfahren. Noch nicht mal in der Stadt.
    Wenn man nun Radfahren (mit 150 Watt, in der Ebene 25 - 30 km/h) vom Gesetzgeber her nicht akzeptiert, kann man keine Einhaltung der Regelungen erwarten.

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  4. Ich sage es ja immer wieder: Schrittgeschwindigkeit für Radfahrende ist unmöglich. Es geht nicht. Mal kurz ja, aber nicht auf längeren Strecken. Das schafft auch die Fahrradstaffel de Polizei nicht. https://dasfahrradblog.blogspot.com/2022/02/schrittgeschwindigkeit-furs-fahrrad-ist.html

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  5. Ulrike
    Zum Verhältnis von Fußgänger_innen und Radfahrenden gab es diese Woche eine Sendung im Deutschlandradio:
    Mehr gegeneinander als miteinander? Fahräder und Fußgänger im öffentlichen Raum https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.3265.de.html?mdm:audio_id=dira_DLF_08fb524d
    Darin wird auch das Beispiel Niederlande erwähnt, dort sind die beiden Verkehrsbereiche wohl durchgehend getrennt, auch farblich. Das macht es sicher für alle einfacher, sicherer und konfliktärmer. Es wäre doch toll, wenn solche guten Konzepte von anderswo einfach übernommen werden könnten oder zumindest mehr in eigene Verkehrskonzepte einflössen. Vielleicht ist das ja auch schon der Fall.
    Jedenfalls gefällt mir der Gedanke des rücksichtsvollen, auf das Ganze (und nicht nur das Eigene) schauenden Radfahrens sehr gut.

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  6. Der Autoverkehr bekommt den Kuchen und Rad- und Fußverkehr kloppen sich um die Krümel. Wer über den Tellerrand schauen kann versteht das Problem und bimmelt oder brüllt Fußgänger nicht an, die auf Radwegen laufen, denn Fußgänger sollten die Könige unter den Verkehrsteilnehmern sein, während sich alle anderen unterzuordnen haben.

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