11. April 2020

Die Sache mit den provisorischen Radstreifen

Berlin macht das, lese ich. Wenn ich genauer lese, dann legt Berlin allerdings keineswegs großflächig Radstreifen überallhin, damit das Radfahren leichter wird.

Das Mobilitätsverhalten ändert sich, auch in Stuttgart. Mehr Leute fahren Fahrrad. Viele meinen allerdings auch, das Auto sei ja nun das sicherste Verkehrsmittel und fahren Auto. Die autofreundliche Politik droht bereits damit, dass man künftig wieder mehr Autostraßen bauen müsse, weil man sich in öffentlichen Verkehrsmitteln mit Krankheiten infiziere. Wir sind also nicht wirklich weiter, was die grundlegenden Verkehrskonflikte betrifft. Radfahren ist allerdings gesünder als Auto fahren. Denn es stärkt Immunsystem und die körperliche Gesamtverfassung.

Deshalb wünschen sich viele -  auch in den Medien - jetzt sofort mehr Radstreifen in unserem Straßennetz.

Ich auch. Die Grünen und die Linksfraktion des Stuttgarter Gemeinderats haben Anträge für temporäre Radfahrnstreifen gestellt. Nicht radfreundliche Fraktionen haben um Vertagung gebeten, weshalb sie nicht bei der Gemeinderatssitzung am Donnerstag behandelt wurden. (Derzeit dürfen Frakionen bei strittigen Themen, die eigentlich in Ausschüssen diskuiert werden, eine Vertagung beantragen, was auch die anderen Fraktionen bei anderen Themen gemacht haben.)

Ich meine, es wäre sehr hilfreich für den Radverkehr, wenn provisorische Radstreifen anlegen würden. 
Beispielsweise auf der Heilbronnerstraße zwischen Hauptbahnhof und Pragsattel einen von jeweils zwei Richtungsfahrbahnenin in Radfahrstreifen umwidmen würden. Denn hier sind die Gehwege (die zugleich Radwege sind) viel zu schmal, um mit dem Corona-Sicherheitsabstand aneinander und an Fußgänger:innen vorbei zu kommen. Außerdem verläuft hier eine Stadtbahnlinie. Autofahrende und Stadtbahnfahrende könnten also sehen, dass man hier nun auch gut Radfahren kann. Ähnlich sehe ich das für die Verbindung nach Feuerbach. Wo die Siemensstraße mehrspurig ist, könnte man einen breiten Radfahrstreifen abtrennen.


Tagesspiegel
Derzeit weisen alle auf Berlin hin, wo das schon gemacht werde.
Allerdings ist bei genauem Hinsehen doch nicht so viel dahinter. Berlin hat zunächst zwei Pilotprojekte angekündigt. Die Senatsverwaltung von Kreuzberg sollte sich da dran machen. Später sollen drei weitere dazukommen. Umgesetzt ist derzeit eine. In den aktuellen Informationen lese ich, dass es insgesamt vier Radfahrstreifen und einer erweiterte Aufstellfläche geben soll. Das ist jetzt nicht eben viel für eine so riesige Stadt. Kreuzberg ist Vorreiter und prüft, wie man temporäre Radfahrstreifen rechtssicher einrichten kann. Es gibt bereits einen Regelplan, nach dem die Bezirke dann vorgehen können. Allerdings regt sich, wie dieser Bericht zeigt, auch Widerstand. Nicht-Radfahrende empfinden solche Maßnahmen als Provokation in Zeiten, wo ihrer Meinung nach, die Menschen größere Probleme haben als die Verkehrswende. Wenn sie wie ein Handstreich daher kommen, wirken autoverkehrsbregrenzende Maßnahmen undemokratisch.

Berlin hat mit dem Radverkehrsplan allerdings bereits die rechtliche Grundlage, sowas zu machen. Er enthält konkrete Ausbauvorhaben mit Jahresausbauzielen. Die jetzt  umgesetzen Maßnahmen waren bereits geplant. Und wie dieser Bericht zeigt (und wie ich weiß), hat auch Stuttgart sich bereits erkundigt, auf welcher Rechtsgrundlage Berlin das macht und wir wir das tun könnten. Dabei kommt heraus, dass in Berlin jezt das vorgezogen gemacht wird, was ohnehin schon geplant war.

Der Unterschied zu uns in Stuttgart: In Berlin liegen für die fünf Projekte bereits die Genehmigungen der zuständigen Ämter vor. Tatsächlich müsssen alle Pläne, die in den Straßenverkehr eingreifen, in Stuttgart vom Verkehrs- und Ordnungsamt geprüft und genehmigt werden. (Auch das Regierungspräsidium hat unter Umtsänden mitzureden.) Und ich glaube, wir alle können uns gut vorstellen, dass das Ordnungsamt gerade massiv zu tun hat mit all den angeordneten ordnungspolitischen Maßnahmen im Rahmen der Corona-Krise. Wir könnten vielleicht dennoch auf der Theo so was machen, denn die Pläne für geschützte Radfahrstreifen sind bereits ziemlich weit. Allerdings sieht die Planung vor, dass die Radstreifen auf die jetztigen Parkplätze und in den Fußgänger- und Parkplatzbereich gelegt werden, die nicht Teil der Fahrbahn sind. Es sind erhebliche bauliche Maßnahmen notwendig. Eine Fahrspur wegnehmen und einen Radstreifen drauf malen, wäre etwas völlig anderes.

Ich wünsche mir allerdings dringend, dass für ein paar Maßnahmen, die den Radverkehr erleichtern, Kapazitäten in den Ämtern vorhanden wären.
Vielleicht kann der Regelplan Berlins da auch helfen, die Prüfung zu beschleunigen. Banal ist das Thema jedoch nicht. Auf Geradeausrouten, etwa die Heilbronner rauf und runter, mag das einfach erscheinen, beim Linksabbiegen könnte es bereits wieder kompliziert, also für Radfahrende weniger sicher werden. Und auf der Siemensstraße müsste eben auch geklärt werden, wie die Radfahrenden nach links zur Tulpenstraße Richtung Stuttgarter Straße abbiegen können.

Auf der Rotebühlstraße könnte man für temporäre Radstreifen alle Parkplätze einziehen und die die jeweils rechten Spuren für den Radverkehr einrichten. Alllerdings gibt es gerade im Westen ausreichend gut bekannte Nebensstraßenstrecken, auf denen bereits viele Radfahrende unterwegs sind. Ich bin zwar der Meinung, dass es auf jeder Hauptstraße Radfahrstreifen geben muss, aber die müssen halt auch erst einmal geplant werden. Und sie sind noch nicht geplant. Eine Prüfung der Verkehrsbehörde hat noch nicht stattgefunden.

Allerdings darf ja jeder Radler auch jetzt schon auf der Fahrbahn radeln und sich an Ampeln aufstellen und mit den Autos die Kreuzungen überqueren, insofern würde ein Radfahrstreifen anstelle einer rechten Fahrspur keinen grundlegenden Wechsel darstellen und auch keine besonderen Kreuzungslösungen erfordern. Nur das Linksabbiegen stellt Radelnde (vor allem ungeübte) vor Herausforderungen, und auf dem Charlottenplatz ist es ganz verboten, weil die Ampelphasen nicht auf die langsameren Räumungszeiten der Radler:innen eingestellt sind. Eine langsame Radlerin könnte sich noch auf der riesigen Kreuzung befinden, wenn der Quer- oder Gegenverkehr schon startet.

Wenn es einfach wäre, hieße es nicht Politik.
Ich schreibe das, nicht weil ich selbst das Unterfangen für sinnlos hielte, sondern um zu zeigen, dass politisches und Verwaltungshandeln nicht für spontane und schnelle Maßnahmen ausgelegt sind, sondern darauf, zu prüfen, abzuwägen und zu einer abgeklärten Lösung zu kommen. Und demokratisch muss es auch ablaufen. Es ist ja gar nicht so, dass alle in dieser Stadt damit einverstanden wären, dass man die Gelegenheit einer Ausnahmesituation ergreift, um den Verkehr umzubauen. Grüne, Linke und SPD würden zwar vermutlich eine Mehrheit im Gemeinerat dafür zusammenbringen, aber eine abwägende Beratung kann derzeit nicht stattfinden. Andersherum würden wir Radfahrende eine handstreichartige Anordnung für mehr Autostraßen, weil Autofahren in Corona-Zeiten das einzig Sichere sei, auch für undemokratisch und deshalb für einen Skandal halten.

Regieren per Dekret geht nicht.
Die Diskussion am Donnerstag im Gemeinderat zur vorgezogenen Sonntags- und Feiertagssperrung der Hofener Straße für Autos hat mir gezeigt, dass selbst so marginale Veränderungen zugunsten es Fuß- und Radverkehrs für große Wallungen sorgen. SPD und CDU äußerten die Befürchtung, dass nun zu Ostern extra viele Radfahrende und Fußgänger:innen dort unterwegs seien und sich am Max-Eyth-See zusammenballen würden. Es klang so, als wäre es ihnen lieber, wenn man den Gehweg sperrte und die Autos fahren ließe (weil Autofahren in der Dose ja sicherer sei), als die Menschen Spazieren und Rad fahren. Auch der zuständige Bezirskvorsteher hat sich bitter beschwert, weil das Gremium nicht vorher gehört wurde (was nicht geht, weil die Bezirksbeiratssitzungen derzeit ausgesetzt sind). Für diese Maßnahme hätten wir womöglich keine Mehrheit zusammenbekommen. So ein Krisenstab (Bürgermeister, OB, Verwaltung etc.) kann eben nicht etwas anordnen, was in der Stuttgarter Stadtgesellschaft kontrovers diskuiert wird. Regieren per Dekret geht eben nicht. Weder im Guten noch im Bösen.


Ich gebe aber auch nicht auf. Ich arbeite mit meinen Möglichen weiter an dem Thema. Schließlich brauchen wir in Stuttgart die Mobilitätswende und einen massiven Ausbau des Radverkehrs. Daran geht kein Weg vorbei.





11 Kommentare:

  1. Vielen Dank für deine Arbeit Christine!

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  2. Ich habe einen anonymen Kommentar gelöscht, weil ich keine anonymen Kommentare akzeptiere, die Personen oder Organisationen kritisieren. Wir zeigen Gesicht und Name, wenn wir andere anpampen! Der kommentator meinte, es sei immer die gleiche Leier, die Gränen bekämen mit ihren 16 Sitzen im Gemeinderat nichts zustande. Dem Kommentator scheint nicht bewusst zu sein, dass 16 von 60 Sitzen keine absolute Mehrheit darstellen. Und ja, ich fände es auch besser, es würde immer eine Ratsmehrheit unseren oder meinen Vorstellungen folgen. Das ist aber halt nicht so in einer Demokratie.

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  3. Die Sperrung der Hofener Straße war gestern ein voller Erfolg und eine sehr gute Maßnahme: Viele Familien mit Kindern waren mit dem Fahrrad unterwegs. Teilweise waren beide Fahrspuren mit Fahrrädern, Inlinern,... belegt. Habe selber keinen Autofahrer gesehen der versucht hätte durchzufahren. (Einige haben an der Schranke gewendet. Auch cool: in der Mitte stand die Polizei und hat (uneinsichtige) Fahrradfahrer auf dem Gehweg ermahnt.

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    1. Seufz... auf dem Gehweg waren so viele Radler unterwegs, dass die Fußgänger teilweise - verständlicherweise - auf die Fahrbahn ausgewichen sind.

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    2. Neuradler:innen (also solche, die sich jetzt erst Stuttgart mit Fahrrädern erobern) kapieren sowas halt leider nicht gleich und neigen zum ängstlichen Gehwegradeln. Abe es ist ja auch schön, wen nder Platz auf Gehweg und Fahrbahn von allen belegt wurde. von Fußgänger:innen und Radler:innen, Inlineskatern etc. Der Gehwg ist einfach zu schmal.

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  4. Anmerkung: Übrigens glaube ich, wenn ich mir so anschaue, was gerade draußen abgeht, dass wir anderthalb Wochen nach Ostern einen neuerlichen schnelleren Anstrieg der Neuinfektionen haben werden. Radfahrnde, aber auch Paare zu Fuß entwickeln gar keinen Sinn fürs Abstandhalten. Sobald Menschen zu zweit unterwegs sind, sind sie so mit Kommunikation beschäftigt, dass sie nicht mehr ans Beiseitegehen denken. Familien mit Kindern können so was überhaupt nicht denken, geschweige denn umsetzen. Jogger:innen denken nur an ihre Ideallinie und können weder langsamer laufen, noch den Sicherheitsabstand halten. Ich fürchte, wir werden strengere Ausgangsregeln bekommen.

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    1. Das zu beurteilen ist nahezu unmöglich, weil so gut wie nirgends genug Platz ist, außer auf den Fahrbahenen für Autos, um genug Abstand halten zu können. Klar lässt sich da argumentieren, dass man einfach zuhause bleiben solle, wenn man nicht Auto fahren will, aber ist das ne gescheite Lösung?

      Und was die Paare angeht: hier in Stuttgart-Rohr wechseln wir immer mal wieder den Fußweg von der einen auf die andere Seite oder stellen uns zwischen die abgestellten Autos, weil die Fußwege selbst viel zu schmal sind für Begegenungsverkehr. Ich erkenen also ganz deutich einen Sinn für das Abstandhalten. Was ich nicht erkenne ist ein, dass die Stuttgarter Verkerhspolitk für die damit einhergehenden Probleme einen Sinn entwickelt

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  5. Eine auführliche Auflistung, warum Oberbrürgermeister Kuhn, Baubürgermeister Pätzold und die Stuttgarter stadtverwaltung keine pandemie-resiliente Infrastruktur schaffen könnten. Wie so oft gibt es Leute mit Gründen und welche mit Lösungen.
    Denn auch das gehört zur Wahrheit. Die Erstellung eines Verkerhszeichenplans für provisorishce Radwege ist -konservativ geschätzt- in wenigen Tagen erstellbar. Was Zeit kostet ist, falls Stuttgart das noch nicht eh schon gemacht hat, die Vermessung der Straße. Aber auch da reden wir von einem relativ kurzen Arbeitsauwand. Der Vorsprung von Berlin ist also mitnihcten so groß, dass Kuhn und Pätzold nicht schnell handeln könnten, wenn sie es denn wollen.

    Was ich mich nur Frage ist, warum dieser Blog beitrag so ausführlich erklärt, warum die Stadtverwaltung vielleicht nicht handeln kann und wann aus dem Stuttgarter Gemeinderat solche Erklärungen an die Stadtverwaltung gerichtet werden, die gerade den Bürgermeistern zeigen, das sie eben doch ihre Arbeit machen können.

    Denn mal ehrlich, das uns Berlin am Ende vorführt und eventuell auch noch andere Städte, die gerne dem Berliner Vorbild folgen, wäre krass peinlich für eine Landeshauptstadt und auch für Grüne, die mit dem OB und dem Baubürgermeister zwei drei für solche Planungen relevanten Ämter besetzen.

    Übrigens richtig einfach werden Verkehrszeichenpläne, wenn man nicht einzelne Fahrstreifen umwandelt, sondern ganze Straßen für Rad- und Fußverkehr frei macht. Wenn die Stadtverwaltung aber trotz pandemietauglicher Infrastruktur Autoverkehr aufrecht erhalten will, kommt sie an provisorischen Radwegen nicht vorbei.

    Liebe Grüße,

    Thijs

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  6. Die Freien Wähler heulen wegen der Hofener Straße rum wie Kleinkinder im Sandkasten, die sich um eine Schaufel streiten, obwohl es genügend gibt. Mit solchen Leuten im Gemeinderat wird es in dieser Stadt keine Verkehrswende geben.

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  7. TL;DR: Aufgrund veränderter Bedingungen wird mehr Fahrrad und weniger Auto gefahren – und nun soll man schleunigst Ghettos nachbauen bzw. -malen, damit man denen später, wenn die Erinnerung verblasst ist, eine positive Wirkung zuschreiben kann.

    In Wirklicheit beobachten wir jedoch gerade, dass es eben nicht auf mehr und schönere Ghettos ankommt und dass ein radverträglicher Kfz-Verkehr möglich ist. Muss man das mutwillig kaputtschlagen?

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  8. Warum können denn nicht zumindest Wege wie die Bachhalde für Kfz Verkehr gesperrt werden? Oder zumindest mal ein Geschwindigkeitsblitzer aufgestellt werden?

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