18. April 2024

Das Fahrrad fährt immer in die Zukunft

Das Fahrrad ist ein Medium sozialer Veränderung. Es vermittelt, es verbindet, es übersetzt, es modifiziert die Wahrnehmung und Organisation von Raum und Zeit, von Körpern und Gemeinschaften. 

So heißt es in der Einleitung der Schrift "Fahrradutopien: Medien, Ästhetiken und Aktivismus" (2022) einer Autor:innen-Gemeinschaft. Noch immer, so sagen sie, wird das Fahrrad wissenschaftliche und kulturell unterschätzt. Es ist ein Medium des Wandels. Radfahren verändert nicht nur die persönliche Mobilität, sondern hilft, gesellschaftliche Räume neu zu organisieren: Straßen, Städte, Nachbarschaften, Gemeinschaften. Mit dem Fahrrad wird die eigene Bewegung zur Mobilität. Für Radfahrende vergrößert sich dabei der soziale Raum, sie zeigen ihr Gesicht, wenn sie fahren, sie treffen Leute, die kommen weiter als zu Fuß. Das Fahrrad ist nicht nur ein Transportmittel, es ist auch eine Lebensart, eine Einstellung und eine Vision von Zukunft. Es kann Städte und Dörfer lebenswerter gestalten, wenn die Städte darauf reagieren und ihm Platz einräumen, den bisher Autofahrende innehatten. Das Fahrrad, so der Gedanke der Autor:innen, versammelt deshalb - anders als andere Verkehrsmittel - auch bis heute Aktivist:innen um sich.

CM, Fahrradstau statt Autostau

Sie werben fürs Radfahren und und streiten für eine gerechte Infrastruktur. Sie sind in Verbänden organisiert wie dem ADFC oder in Vereinigungen wie der Critical Mass, der Kidical Mass und organisieren sich spontan in Massen zum Fancy Women Bike Ride oder zum Purple Ride und der Critical Mass, die auch in den sozialen Medien aktiv sind und an bestimmten Tagen viele Fahrräder auf die Straßen bringen, die sonst von Autos beherrscht werden. 

Mit dem Radfahren verbinden sich politische Forderungen nach Freiheit (von Frauen oder Jugendlichen), Sicherheit im öffentlichen Raum oder Umweltschutz. Die Radfahrten ermutigen andere, ermächtigen die Radfahrenden selbst, sie helfen, sich den Stadtraum anzueignen und ihn für eine andere Nutzung vorzuschlagen. Zitat, S.14: "Das Radfahren ist ... keine idealistische Utopie, sondern eine pragmatistische im philosophischen Sinne. Es ist Denken in Bewegung, Denken der Bewegung und Denken mit Bewegung (... Es) kann gesagt werden, dass das Radfahren zugleich spekulativ und pragmatisch ist, es sucht sich Wege und wirkt somit performativ auf eine mögliche Zukunft."

Das Fahrrad ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts da. Und es wurde immer gefahren, mal mehr, mal weniger, heute wieder mehr als in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Es ist das Fahrzeug des Individualverkehrs, das das Auto überdauert hat, weil es kostengünstig und einfach zu halten ist und kaum Pflege braucht, weil es kein Heu und Hafer frisst, weil es robust ist, weil es positive Gefühle auslöst, wenn man es fährt, und weil es den Radius der Ziele, die man mit eigener Kraft erreichen kann, gegenüber dem zu Fuß Gehen mindestens vervierfacht. Man kann es beinahe überall abstellen, weil es wenig Platz wegnimmt, man kann es über Hindernisse tragen, weil es leicht ist. Man kann es sogar mit in die Wohnung nehmen. 

Es ist ein Vehikel der individuellen Freiheit. Das war es bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts für junge oder abenteuerlustige Männer und vor allem für junge Frauen: mit ihm fuhr die Utopie eigener Befreiung aus Zwängen und der persönlichen Eroberung der Welt. Auf siebenfache Weise hat das Fahrrad die Welt verändert, meint die Siroko Cycling Community: Auf einmal gab es ein erschwingliches Transportmittel, ersten Tourismus, Frauenemanzipation, ein neues Bewusstsein für Raum und Zeit, Straßenbau, Luftreifen (die Autos zugute kamen) und einen Lastenträger anstelle des Pferdes. Das soziale Veränderungspotenzial des Fahrrads wurde dasmals und wird auch heute vom Establishment misstrauisch beäugt. Auch heute fährt wieder eine Utopie mit: die der Verantwortung für unsere Erde, die der anderen, ressourcenschonenden und CO2-neutralen Mobilität, die Vision von Städten, in denen sich Menschen begegnen, statt Autos stauen, und individuller Freiheitsgenuss und Lebensfreude.

Deshalb schlägt auch heute uns Radfahrenden Misstrauen, wenn nicht offene Ablehnung entgegen. Man sieht das daran, dass unser Verhalten stärker problematisiert wird (Unfälle, Alleinunfälle, Geschwindigkeiten etc.) als das von Fußgänger:innen oder Autofahrenden oder etwa anderen Sporttreibenden, wie beispielsweise das von Skifahrenden. Skifahren ist nämlich ein äußerst riskantes Verhalten, für einen selbst und für andere. In der Schweiz verunfallen aktenkundig 70.000 Ski- und Snowboradfahrende in einer Saison von nur fünf Monaten bei nur 9 Stunden Tageslicht. Dem stehen 91.000 aktenkundige Radunfälle in Deutschland in einem ganzen Jahr gegenüber. Aber kaum je regen sich Presseartikel über Pistenrowdies und deren Regelverletzungen und mangelndem Selbstschutz auf. Häufig sind dagegen die Artikel, die Radfahren als gefährlich (für einen selbst und andere) darstellen. Das spricht dafür, dass das Radfahren von etlichen als Gefahr an sich oder als Bedrohung für das Gefüge der Gesellschaft und ihrer Verhaltensnormen wahrgenommen wird. Die heftige Diffamierung in der Presse von Menschen (Frauen), die ihren Alltag mit dem Lastenrad bewältigen, erzeugt deshalb auch keinen öffentlichen Aufschrei, sondern vielfach billigendes Kopfnicken.  

Radfahrende sind Hasssymbole der Angst vor Neuem, vor Veränderung. Sie sind es auch heute, weil Leute, die ihre Alltagswege mit dem Fahrrad zurücklegen, die zukunftsweisende Mobilität verkörpern und anmahnen. Weil sie den bequem gewordenen Autofreaks eine Änderung der Gewohnheiten vorschlagen, zum eigenen Wohl und zu dem der Gesellschaft. 

Das Fahrrad fährt gewissermaßen immer in die Zukunft. 

13 Kommentare:

  1. Ich finde es wirklich schade, dass Radfahrer sich zu etwas Besserem meinen stilisieren zu müssen und damit einen Kulturkampf heraufbeschwören wollen. Es geht doch nur darum von A nach B zu kommen. Und in einer freiheitlichen Demokratie sollte es doch jedem selbst überlassen sein, wie er das anstellt.

    Von daher finde ich es wirklich gut, dass unser geschätzter Oberbürgermeister Frank Nopper einen Verkehrsfrieden ausgerufen hat. Dies bietet die Grundlage, gemeinsam nach vorne zuschauen und den gegenseitigen Kampf insbesondere um Fläche - das was einen Krieg charakterisiert - hinter uns zu lassen!

    Grüße
    Mercedes Testa Rossa

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    1. Vergiss nicht, dass es auch Radfahrerinnen gibt. Oder meinst du der Kulturkampf wird nur unter Männern ausgetragen? Passt vielleicht sogar, denn wir Frauen neigen nicht zu solch martialischen Grundsatzdebatten. Wir radeln halt in die Freiheit vom ideologischem Automuff auf unseren Straßen. Und den Frieden kann ja auch niemand ausrufen, der die Macht hat, also die Vertreter:innen eines unghinderten Autoverkehrs können den verdrängten und marginalisierten Fußgänger:innen und Radfahrenden nicht zurufen, jetzt ist Frieden, solange noch keine Verkehrsgerechtigkeit hergstellt ist. Und das ist es nicht. Radfahrende haben bislang nicht mehr als 6 Prozent der Verkehrsflächen der Stadt bekommen.

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    2. Hallo Mercedes, wie war das mit dem Kulturkampf? Mach es doch eine Nummer kleiner und sag einfach, dass es dir nicht gefällt. Gruß Frank

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    3. @MTR Das ist mal wieder eine Verdrehung der Tatsachen, eine Aushöhlung sämtlicher Begriffe, die Ihnen gegenüber mehr als misstrauisch macht. Den Kulturkampf propagieren die Gegner der Radfahrer, der "Verkehrsfrieden" ist ein rechter Euphemismus für den Status Quo, und klingt besonders hohnvoll, wenn die eine Seite tagtäglich das Recht des Stärkeren durchsetzt. Und Freiheit gibt es nicht nur für die Einen, Ihre Freiheit als Autofahrerin endet da, wo sie mein Recht auf Leib und Leben gefährdet.

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    4. "Es geht doch nur darum von A nach B zu kommen."
      --> genau darum geht es und dafür fehlt es im Straßenverkehr deutlich an Rücksicht des motorisierten Verkehrs gegenüber den schwächeren Radfahrenden.
      Ich möchte tatsächlich nur von A nach B oder von A nach A kommen, aber ohne das ich ständig gefährdet werde oder überall Autos auf Radstreifen parken.
      Das hat überhaupt nichts damit zu tun das man sich als etwas "Besseres" sieht, sondern der Spaß am Radfahren wird mit dem Nützlichen verbunden.

      Mit schlägt in meiner Stadt aber sehr viel Hass seitens vieler Autofahrenden entgegen und an dieser massiv fehlenden Toleranz muss gearbeitet werden.
      Ich halte mich als Radfahrer und als Autofahrer an alle Regeln und erwarte das auch von den anderen Verkehrsteilnehmern.

      Es gibt allerdings viel zu viele Autofahrende, die meinen, die Straße gehöre ihnen und Radfahrende haben nichts darauf zu suchen, weil sie meinen, ihr vorankommen ist wichtiger, als das Leben und die Sicherheit von Radfahrenden.

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  2. "Es geht doch nur darum von A nach B zu kommen. Und in einer freiheitlichen Demokratie sollte es doch jedem selbst überlassen sein, wie er das anstellt."

    Es ist lange her, dass ich einen derart falschen und - Entschuldigung für die Wortwahl - einfältigen Satz gelesen habe.
    Nach der Logik wäre ja z.B. der peitschenschwingende Freiheits-Ichling, thronend auf von Sklaven gezogener Rennrikscha dann quasi der Kulminationspunkt der 'freiheitlichen Demokratie'?
    Was für ein Unsinn!
    Selbstverständlich sind die individuellen Freiheiten in demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten, Gesellschaften immer zugleich an die Verträglichkeit im Sinne eines Gemeinwohls gebunden, siehe auch Art.14 Abs.2 GG:
    "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."
    Was das angeht, schneidet das Automobil mit seinen dutzenden negativen Wirkungen und Nebenwirkungen auf das Gemeinwohl derart extrem schlecht ab, dass gut begründet von einer Freiheitsabtötungsmaschine aus der Perspektive des Gemeinwohls, aber sicherlich nicht von einem verträglichen Freiheitsrealisator im Rahmen von demokratischen menschenrechtsverpflichteten Gesellschaften zu sprechen ist.
    Kulturhistorisch, was das Automobil angeht, vielleicht ein wenig weiterbildend:
    https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/11305/ssoar-2002-zenone-das_automobil_im_italienischen_futurismus.pdf
    Für die Entwicklung hin zu Militarismus und Faschismus immerhin ist das Automobil durchaus tauglich gewesen, und ist es immer noch, wenn wir uns etwa die aktuellen Designs der militaristisch aggressiven Frontpartien der so beliebten 'Stadtpanzer' anschaun.
    Meine Werte und Freiheitsvorstellungen jedenfalls werden durch Automobile nicht repräsentiert, sondern weitestgehend negiert, ganz im Gegensatz zum gemeinwohlkompatiblen genügsamen Fahrrad.
    Alfons Krückmann

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    1. Hallo in die Runde

      Ich sag ketzerisch und böse: Die heutige Dominanz des Automobils, seine Durchdringung des öffentlichen Raums und des Bewusstseins, ist letzendlich gelebter Führerwille: http://bernd.sluka.de/scans/100dpi/RGBl/1934/457.gif und https://www.merkur-zeitschrift.de/artikel/freie-fahrt-fuer-freie-volksgenossen-a-mr-78-1-28/.

      Gruss Michael

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    2. Im deutschen Kontext nicht ganz falsch, aber die Idee und ihre Durchsetzung kam in den USA schon ein bisschen früher. Die (proto-)faschistiche Durchdringung von kapitalistischer Wirtschaft und Staat war aber dieselbe.

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  3. Das Fahrrad ist ein Fahrzeug für alle. Auch wer es nicht so dicke hat, kann sich für kleines Geld, oder bei Glück auch geschenkt, eines besorgen. Der Betrieb kostet nix, mit etwas technischem Verstand kann man es selbst reparieren oder sich in einem Reparaturcafe helfen lassen.
    Es erweitert den mobilen Radius enorm.
    Man kommt damit auch mal an Stellen, wo man mit dem Auto nicht hinkommt, oder es einem zu Fuss zu mühselig ist
    Ein Fahrrad ist ein Fahrzeug, sonst nix. Man kommt damit kostenfrei von A nach B, wie zu Fuss auch, nur schneller und weiter weg.
    Ich seh' da keinen Kulturkampf, ich seh' da nur Fahrzeug, sonst nix.
    Fahrrad ist für alle, klassenlos. Es gibt mehr Fahrräder in Deutschland als Autos. Fast jeder hat ein Rad. Warum nur?
    Karin

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  4. Die schrägen Einwürfe von Mercedes amüsieren mich doch immer wieder. Sie mögen nicht immer korrekt sein,- das sollen und wollen sie sicherlich nicht,- haben sie doch auch etwas entlarvendes.
    Also so wie ich dich verstehe, ist das Radfahren auch was für den kleinen Geldbeutel,soso... Nun macht man es sich passend, wie man es gerade braucht. So viel ich von deinen Einträgen weiß, benutzt du doch auch ein Auto, wenn es erforderlich ist.
    Nun sollen nur noch die mit großem Geldbeutel Auto fahren,- am besten elektrisch oder
    Hybrid, damit man ein gutes Gewissen hat? Hat doch was von Ablasshandel . Das klassenlose Fahrrad für alle, das Auto nur für wenige? Mein Gott, ist das schräg.

    Gruss, Andreas

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    1. Das ist auch nicht meine Auffassung, Andreas. Danke für deinen Kommentar. Interessanterweise radeln vielfach gerade die Leute, die mehr Geld haben (Pedelecs sind ja teuer) und diejenigen, die wenig Geld haben, konzentrieren sich vielfach auf den Autobesitz. Mir geht es aber auch darum, zu sagen, dass es kein Alles oder Nichts ist, kein: Keine Autos mehr und nur noch Fahrräder. Sondern ein weniger Auto und mehr Fahrrad. Ich wundere mich eh, dass Autofahrende nicht vehement Radstreifen und Radwege fordern. Sie wollen doch auf der Fahrbahn nicht hinter Radfahrenden hängen. Da ist schon viel Ideologie dabei.

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    2. Hallo Christine, danke das du mal den springenden Punkt ansprechen tust: Viel Ideologie und das leider von beiden Seiten. Etwas mehr unaufgeregter Pragmatismus würde uns allen gut tun.Im Zusammenhang mit dem Fahrradfahren mache ich aber eine andere,- zugegebenermaßen,- subjektive Beobachtung: Die es sich leisten können, fahren E-Bike oder finden es jetzt chic
      mit einem Rennrad durch die Stadt zu heizen, eine Sache, für die sich mein Jahrgang zu unserer aktiven Zeit geschämt hätte. Die wirklich armen Menschen
      beobachte ich jetzt auf dem "normalen" Fahrrad.
      Gruss, Andreas

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    3. Dass das Fahrradfahren so ideologisiert wird, ist ein Manko. Ich erlebe allerdings viele Radfahrende, für die das keine Weltanschauung ist, sondern praktisch. Und es stimmt, bisher radeln eher Gebildete und Wohlhabendere aus Überzeugung. Pedelecs sind allerdings zwar einerseits sehr teuer, andererseits gibt es viele auch recht billig, alle mal als Gebrauchte. Ich selber habe schon eines meiner Alten verschenkt und eines billig verkauft, ein drittes einer Radstation gegeben. Es sind also E-Räder im Umlauf. In vermutlich gar nicht so geringen Einzelfällen könnten sie bei einer Person, die nicht viel Geld verdient, das teure Auto ersetzen, das sie für den Weg zur Arbeit braucht, und dann hätte diese Person mehr Geld fürs alltägliche Leben übrig. Einkaufen kann man auch mit dem Fahrrad, man muss sich nur anders organisieren. Ich habe eher den Eindruck, dass das Festhalten am Auto als Konzept zur Bewältigung der alltäglichen Mobilität Weltanschauung ist, also Ideologie, denn Vernunft steckt da nicht dahinter. Und das ist ein Kennzeichen für Ideologie.

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