15. September 2023

Warum Leonardo das Fahrrad nicht erfand

Das Fahrrad ist ein Zwischending. So beginnt Elmar Schenkel seinen Essay "Cyclomanie" übers Radfahren in der Literatur. 

Auto, Eisenbahn und Flugzeuge gehörten zum Drama und großem Roman, dem Fahrrad aber, das nicht auf Autobahnen fahren darf und dennoch zwischen Autos auftaucht, sei wie dem "hybriden Essay" eine Zwischenstellung eigen. 

Gleichzeitig teilten Radfahrer (Radfahrerinnen kannte man 2008 noch nicht) sich oft, ob legal oder nicht, Fußwege mit Fußgängern und Reitwege mit Reitern. "Überhaupt schlängeln sie sich manchmal durch das Gesetz." Der Autor stellt fest, das Fahrrad sei in einer "Zeit nach der elektronischen Sintflut" vorsintflutlich anmute, "eine gleitende Paradoxie. Aber es übertrumpft alle komplizierte Maschinerie in einem wichtigen, eines Tages vielleicht überlebenswichtigem Punkt: Es hat die beste Ratio von Energieverbrauch. Gebe ich einem Radfahrer ein Pfund Speck, so kommt er mit den Kalorien entscheidend weiter als alle anderen Fahrzeuge und Tiere dieser Erde." 

Das Trauma der Erfindung des Laufrads und Fahrrads wirkt bis heute nach. Immer schon hatte es etwas von einer Teufelsmaschine, einem Hexenbesen oder einem Umsturzvehikel

Im 19. Jahrhundert bedeutete das Hochrad eine Revolution der Vorstellung von Bewegung und Balance für  Geist und Körper. Bisher war man zu Fuß gegangen, suchte Naturerlebnis und Inspiration beim Wandern. Anhalten und Stehenbleiben bedeutete (wie beim Pferd) Stabilität. Das Fahrrad aber wird instabil, wenn man es bremst, und kippt um, wenn man anhält. Vor der Erfindung und Verbreitung des Autos war das Fahrrad außerdem das schnellste Gefährt, das ein Mensch allein steuern konnte. Es wurde zum Symbol der Geschwindigkeit und des Ausbruchs aus gesellschaftlichen Zwängen und Abhängigkeiten - für Frauen war es ein Emanzipationsmotor - hinaus in die weite Welt. Es erzeugte bei ihren Fahrerinnen und Fahrern ein ungeahntes Glück und verlieh ihnen das Gefühl von Macht, weil  sie die Umgebung erobern konnten. Und noch 1963 beendete Richard Dehmel sein Gedicht "Radlers Seligkeit" mit der Strophe: "Noch Joethe machte das zu Fuß, / und Schiller ritt den Pegasus. / Ick radle!" 

Anfang des 20. Jahrhunderts bis nach dem zweiten Weltkrieg war das Fahrrad ein Massenverkehrsmittel, mit dem sich auch die Jugend zu Radtouren und Radreisen aufmachte. Heute, so Thomas Schmidt, Leiter des Literaturarchivs Marbach, in der Sendung "Lesart" des Deutschlandradios Kultur am 31. Juni 2023 (10:05 Uhr), ist das Fahrrad eher mit der Idee der Langsamkeit und des Abtastens verbunden. Seine  Technik inspiriert uns nicht mehr so wie die Intellektuellen um die vorige Jahrhundertwende. Laut Thomas Schmidt ließen sich Schriftsteller damals gern mit dem aufregenden Fahrrad fotografieren. In Wien sei Arthur Schnitzler sowas wie der Messias des Radfahrens gewesen, der jeden bekehren wollte. Samuel Beckett hatte Glücksgefühle beim Radfahren. Mark Twain kaufte sich ein Hochrad, das er unter Mühen steuern lernte (siehe unten), und machte es in seinem Roman "Hank Morgan am Hofe König Arthurs" auf einigen Seiten zum Thema, als der Held ins Mittelalter entführt und dort hingerichtet werden soll und fünfhundert furchteinflößende Ritter auf Hochrädern kommen, um ihn zu retten. Dass das Fahrrad auch heute noch romantauglich ist, zeigt Joachim Zelter mit seinem Buch "Im Feld. Roman einer Obsession" (2018), in dem es um um ein hochkomplexes Sozialgefüge im Peloton und die Selbsterfahrung eines besessenen Radlers geht, aber eben ums langsame Abtasten einer anderen Welt. 

In dem Essay "Cyclomanie" sucht Elmar Schenkel nach den Spuren, die das Fahrrad in der Literatur hinterlassen hat. (Sein Essay ist mir Inspiration für diesen Artikel.) Chesterton (Autor von Pater Brown) sah im Rad an sich ein Richtungsparadoxon: Auf der einen Seite dreht es sich nach vorne unten, auf der gegenüberliegenden Seite nach hinten oben. Für ihn war das ein Sinnbild der Revolution, die in die Zukunft will und dabei einer Vision der besseren Vergangenheit anhängt (die französische Revolution wollte zurück nach Rom). Und noch ein Paradoxon sieht Schenkel: Während man Rollstühle als fahrende Thronwagen für Könige baute, damit sie nicht laufen mussten, sind Rollstühle zugleich für diejenigen nützlich, die nicht laufen können. Der König wird zur Larve, ein freiwillig Behinderter, der Behinderte bekommt seine Mobilität zurück, wobei beim Rollstuhl die Mechanik sichtbar ist. Diese Transparenz des Geräts habe das Fahrrad von den Rollstühlen geerbt, schreibt Elmar Schenkel, während das Auto die "Verlarvung" von Triumphwagen und Kutsche weiterführt. Auch wenn das Fahrrad anfangs von der Noblesse gefahren und erst später zum Massenverkehrsmittel wurde, ist es egalitär geblieben, denn seine Technik wird durch kein Chassis verkleidet. Heute kann man mit teuren Fahrrädern zwar auch zeigen, dass man Geld und Status hat, aber mit teuren Autos kann man das immer noch besser und gewaltiger tun. 

Interessant ist, dass Leonardo da Vinci das Fahrrad nicht erfand, wohl aber Hubschrauber oder Maschinengewehre, vielleicht, so Elmar Schenkel, weil es zu einfach war, als dass es sich leicht hätte erfinden lassen. Das ganz Einfache sei ja meist fast unsichtbar. Ich denke, es lag vor allem daran, dass niemand, auch Leonardo nicht, das Pferd als Transporthilfe infrage stellte. Es stand überall zur Verfügung, man konnte sich eines leihen oder selbst eines halten. Und Pferde waren schnell, wobei man auf längeren Strecken meist im Schritt  (3,5 - 6 km/h) ritt (oder die Kutsche fuhr). Beim Trab kommt ein Pferd schon auf 12 und 18 km/h und im Galopp auf 21 und 35 km/h. Quarter Horses (amerikanische Postpferde) kommen auf kurzen Strecken sogar auf 80 km/h. Männer brauchten also im 15. und 16. Jahrhundert kein Fahrrad. Als man 1816 vom Pferd unabhängig werden musste, weil es wegen eines Vulkanausbruchs 1815 und einer darauf folgenden Klimaabkühlung zu Nahrungsmangel kam und Pferde nicht mehr zu ernähren waren, erfand Karl von Drais das Laufrad. 

Bis heute streiten sich die Nationen, so Schenkel, welche das Fahrrad hervorgebracht hat. "Die Geschichte der Erfindungen weist so manche Parallele zur Geschichte der Literatur auf. Wer ist der Erfinder des Romans? War es ein Spanier (Cervantes), war es ein Engländer (Defoe), eine Engländerin (Aphra Behn), ein Deutscher (Grimmelshausen), ein Franzose (Chrétien de Troyes) eine Japanerin (Murasaki Shikibu), war es ein Grieche (Heliodor)? Am Ende müssen wir sagen, daß es viele sind, die zu einer Erfindung ebenso beitragen wie zu einer literarischen Gattung. Aus Gründen der geistigen Ökonomie, des Partikularismus und der Mnemotechnik beharrt die Nachwelt jedoch darauf, einen Namen präsentiert zu bekommen. Doch die Kehrseite der Repräsentation ist immer Verdrängung." (Cyclomanie) 

Wenn das Fahrrad als Zweirad definiert wird, dann ist Drais der Erfinder, sein Name ist fast allen bekannt. Elmar Schenkel meint, ihn habe eine literarische Frage beschäftigt, nämlich, wie man sich vom Zugtier emanzipieren könne. Er erfand schon 1813 (zwei Jahre vor dem Vulkanausbruch) für Kriegszwecke einen vierrädrigen Wagen ohne Pferd, der über eine Tretmühle und später eine Kurbelwelle angetrieben wurde. (Wobei die Idee eines solchen Muskelkraftwagens aus dem 15. und 17. Jahrhundert stammt.) Der Mensch wurde damit zu seinem eigenen Pferd. Danach wurde die Menschkutsche halbiert und am Ende stand ein neuer Zentaur, eine Mensch-Maschine. "Der Draisinenreiter ist sowohl ein Kutscher als auch ein Fahrgast als auch ein Pferd." (Zitat des Technikhistorikers Joachim Krausse). 

Drais und seine Draisine wurden dann selber Zielscheibe literarischer Polemik, weil sein Vater als Richter den Mörder des antiliberalen Dichters Kotzebue zum Tode verurteilt hatte, was das revolutionär-nationale junge Deutschland ergrimmte und Drais Junior samt seiner Erfindung den Hass des Essayisten Gutzkow zuzog. Der schrieb: "Die ganze Maschine ist auf Lächerlichkeit angelegt, denn nur Kinder können sich derselben, der komischen Gestikulationen wegen, die man dabei machen muss, bedienen. Es sieht fast so aus, wenn man auf der Maschine sitzt, als wollte man auf dem Straßenpflaster Schlittschuh laufen. Genug, seit Erfindung dieses ganz zwecklosen Spielzeugs, hat Hr. von D. so zu sagen seinen Verstand verloren. (Gutzkow, Band I, 254)." (zit. ach Schenkel) Man empfand die ungewohnten Bewegungen der Draisinenfahrer als unwürdig, grotesk, kindlich, lächerlich. 

Ignorieren konnte sie jedoch niemand, auch Goethe nicht. Er notierte im Tagebuch: »Im Paradies fuhren die Studenten auf den Laufrädern.« (zit. nach Schenkel) Das Paradies war übrigens ein Stadtteil Jenas. Die Draisine wurde auch sofort zur politischen Gefahr. 1920 wurde das Laufrad in Preußen verboten, weil es den Studenten (der Burschenschaften) für eine schnelle Kommunikation diente, man konnte sofort überall sein und sich versammeln. Heute machen wir das mit Whatsapp und Facebook. 

Das Fahrrad mit Pedalantrieb und Gummireifen wurde fünfzig Jahre später kollektiv in Frankreich, Großbritannien und vielleicht auch Deutschland erfunden. Und so mussten in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts die bürgerlichen Schichten etwas ganz Neues lernen: das dynamische Gleichgewicht. Elmar Schenkel: "Beim Fahrrad mußte man sich von der alten stabilen Bewegung verabschieden, die nur ein statisches Gleichgewicht kannte, das heißt, Balance wurde hergestellt, indem man stehenblieb. Das entsprach einer Gesellschaft, die noch wenig Mobilität hatte und aus einem Ständesystem erwachsen war. Das Fahrrad provozierte die Erwachsenen, weil sie das Körpergefühl nicht kannten, das durch balancierende Bewegung entsteht, also das dynamische Gleichgewicht." Wer das nicht konnte oder sich nicht zutraute, fuhr damals übrigens Dreirad oder Vierrad. 

Das Radfahren Lernen soll Reiterinnen und Reitern besonders schwer gefallen sein, weil sie, wie der Heimatdichter Ludwig Ganghofer, meinte, zu sehr spezialisiert waren. Auch auf dem Pferd sitzt man am sichersten, wenn es steht. Ganghofer schrieb über seine Fahrradschulerfahrungen und die wundersame "magnetische Anziehung", die Ecken, Tische, Säulen auf Radfahrende ausübten, man wolle vorüberhuschen und knalle gegen sie. (Mit dem Fahrrad fährt man in der Regel dorthin, wo man hinschaut, je gebannter, um so eher, also aufs Hindernis drauf, was bis heute ein Problem ist.) Auch Mark Twains Bericht darüber, wie er mit 50 das Hochradfahren lernte , sind geprägt von Verwunderung über die eigene Unfähigkeit. Nur das Runterkommen habe er sofort erlernt - und kam ins Krankenhaus. Er hatte mit dem Schlingern des Rades seine Schwierigkeiten, sein Körper verstand die Ausgleichsbewegung nicht. Er schrieb: "Um mich in der Fahrposition zu halten, wurde von mir ein Haufen Dinge verlangt, und jeden Augenblick war die Anforderung gegen die Natur. Gegen die Natur, aber nicht gegen die Naturgesetze. Will sagen, wie immer das Erfordernis auch sein mochte, dass mich meine Natur, Gewohnheit oder Erziehung ihm auf die eine Weise nachkommen ließ, während irgendein unverrückbares und unerwartetes Gesetz der Physik verlangte, dass es genau auf die andere Art zu machen war." Schließlich erkannte er: "Das große Rad muss genau in die Richtung gedreht werden, in die man fällt." (zit. nach Cyclomanie) Und das widersprach der Erfahrung beim Gehen oder Stehen: Kippt man zur einen Seite, lehnt man sich zur anderen. Twains Kampf mit der Maschine war ein Kampf mit dem eigenen Kopf. 

Das Ringen um die dynamische Balance auf dem Fahrrad fällt zusammen mit der Etablierung der Psychologie als Wissenschaft und der Lehre vom Bewussten und Unterbewussten: Versteckte Teile der eigenen Psyche arbeiteten gegen den bewussten Teil des Verstands. Twains Zeitgenosse Henry Adams notierte um 1900: "In seinem Bewusstsein nahm die zusammengesetzte Psyche auf einmal die Form eines Zweiradfahrers an, der sich mechanisch aufrecht hält, indem er all seine minderen Persönlichkeiten unterdrückt, und der mit Sicherheit in das unterbewusste Chaos unter ihn fallen würde, wenn seine minderen Persönlichkeiten nach oben gelangten. Er erwachte mit einem Schauder, so als sei er vom Zweirad gefallen." (Zitiert nach Schenkel, Cyclomanie)

Die Einheit Mensch und Pferd verwandelte sich in die futuristische Einheit Mensch und Maschine, der Zentaur in einen Cyborg. Und nicht zufällig machen wir sprachlich aus dem technischen Gerät gerne wieder ein lebendiges und eigenwilliges Tier, ein Stahlross oder Drahtesel. Der irische Autor Flann O`Brian schrieb 1940 einen skurrilen Roman ("Der dritte Polizist", veröffentlicht erst 1962), in dem der Radfahrer zum Übermenschen wird. Deshalb wird in allen Texten über die Spuren, die das Fahrrad in der Literatur hinterlassen hat, dieser Abschnitt zitiert: "Das Brutto- und Nettoresultat davon ist, dass die Persönlichkeit von Menschen, die die meiste Zeit ihres natürlichen Lebens damit verbringen, die steinigen Feldwege dieser Gemeinde mit eisernen Fahrrädern zu befahren, sich mit der Persönlichkeit ihrer Fahrräder vermischt – ein Resultat des wechselseitigen Austausches von Atomen –, und Sie würden sich über die hohe Anzahl von Leuten in dieser Gegend wundern, die halb Mensch und halb Fahrrad sind." Ich keuchte vor Staunen, und das hörte sich in der Luft an wie ein defekter Reifen. "Und Sie wären platt, wenn Sie wüssten, wie viele Fahrräder es gibt, die halb menschlich sind, die zur Hälfte dem Menschengeschlecht angehören."" (O'Brien, S.85)

Fahrrad eine Schriftstellers im Restaurant
Die Maschine bestimmt das neue Bewusstsein. Radrennfaherr:innen, aber auch Alltagsradelnde, die weite Strecken fahren, kennen das: Sie müssen eine Einheit mit dem Fahrrad bilden, den Pedaltritt anpassen, den Luftwiderstand verringern, sich in Kurven lehnen. Das Fahrrad bestimmt, wie sie sich bewegen. Und - das wissen wir Blogleser:innen und die Blogautorin - wir Radfahrende bewegen uns in einer anderen Verkehrswelt als Autofahrende und zu Fuß Gehende, wir sind der Sonderfall bis heute. Wir bringen Fußgänger:innen und Autofahrende aus dem Konzept, weil sie nicht vorhersehen können, wie wir uns bewegen. Und auch das hat O'Brian schon beobachtet: »Das Benehmen eines Fahrrades mit hohem Humanitäts-Anteil ist sehr listig und überaus bemerkenswert. Man sieht nie, wie sie sich aus eigener Kraft fortbewegen, aber man trifft sie unerwartet an kaum erklärlichen Orten. Haben Sie noch nie ein Fahrrad gesehen, in einer warmen Küche gegen die Anreichte gelehnt, während es draußen gießt.

Das Fahrrad ist unheimlich. Es ist schnell und man hört es nicht. Schon die Kutscher hassten Radfahrende, nicht nur, weil die Pferde scheuten, sondern auch, weil das Radfahren sie Kundschaft kostete. Und nicht selten setzten sie die Peitsche gegen Radfahrende ein. Pferde ließen sich außerdem schwerer lenken und eine Kutsche schwerer bremsen als später die Autos. Die Berliner Radlerin Amalie Rother nannte die Angst, die Kutscher wiederum bei Radfahrenden auslösten, das "Wagenfieber": "Ein entsetzliches Angstgefühl packt uns, der Schweiß bricht aus. Wehe dem, der jetzt dem Angstgefühl nachgibt und von der Maschine springt!

Das Fahrrad ist um die vorige Jahrhundertwende Science Fiction. Es war eine Maschine mit fantastischem und unheimlichem Potenzial zum Drama und zur Tragödie. Davon erzählt 1895 der noch nicht ins Deutsche übersetzte Roman "The Wheels of Chance. A Bicycling Idyll (Die Räder des Zufalls. Eine Radfahridylle)" von H.G.Wells. Ein kleiner Angestellter lernt Rad fahren, erradelt die nähere Umgebung, was sich in seiner Fantasie als kriegerische Eroberungszüge darstellt. Elmar Schenkel resümiert: "Wenn die Technik träumt, gebiert sie Ungeheuer." (Cyclomanie) Dass das Fahrrad für Frauen ein Vehikel der Befreiung aus viktorianischer Enge ist, sah auch Wells. Zum Hexenbesen wird das Fahrrad für zwei junge Männer, die dieselbe Frau lieben 1899 in "Le roman d’un cycliste (Der Roman eines Radfahrers)" von J.H. Rosny-aîné. Darin geht es um den archaischen Wettkampf zweier Männer auf Fahrrädern und die Frage, wie schnell wollen wir als Menschen mit unserer Körperkraft eigentlich werden. »Es ist die Geschwindigkeit, die den Radler in eine andere Welt zieht, sie ihn sozusagen zum Alien in einer bürgerlich geruhsamen Welt macht.« (Schenkel, Cyclomanie) Aus der Liebe zu der Frau wird übrigens nichts, die beiden Männer sind im Wettkampf verhakt. 

Das Fahrrad wird proletarisch und politisch. Sehr schnell eigneten sich Arbeitervereine das Fahrrad als Sportgerät an. Man spielte Fahrrad-Polo und zeigte Akrobatik, nutzte es für Agitation (Flugblätter verteilen) und als Fluchtvehikel aus der Industriestadt in die ländliche Idylle. Es half den Arbeitern und Arbeiterinnen, ihre Freiheit außerhalb der Arbeit zu behaupten, und war ein Symbol klassenbewusster Solidarität. Ende der 20er Jahre war das Fahrrad das häufigste Verkehrsmittel auf unseren Straßen, die Hälfte einer Stadtbevölkerung fuhr Fahrrad, in Hannover baute man beispielsweise Fahrradstreifen, die nicht mit Kopfsteinen, sondern mit bequemen Eisenschlackesteinen gepflastert waren. 


Simone de Beauvoir fuhr gerne mit Sartre Fahrrad (während des zweiten Weltkriegs machten sie eine anstrengende Radtour ins unbesetzte Frankreich, um Kontakt zu linken Schriftstellern zu suchen), und beide radelnten offenbar so riskant, dass es sie immer wieder in den Straßengraben haute. Bei einer Bergabfahrt versuchte sie zwei Radfahrern auszuweichen und wurde dabei an den Straßenrand geschleudert. Sie schrieb: "Wie ein Blitz zuckte es mir durch den Kopf: ›Natürlich! Man weicht rechts aus!‹ und dann: ›Das ist also der Tod!‹ Und ich starb (...) Und plötzlich erschien das Sterben unfasslich leicht.« (Cyclomanie) Wenn eine Frau sich dank dieser Maschine riskant verhalten konnte, brachte sie das der männlichen Existenz näher, war eine Art Initiation. Die Fahrradunfälle, so beschrieb es auch George Bernhard Shaw, waren heftig, vor allem wenn ungeübte Radler ihre Maschine mit solcher Gewalt fuhren, dass sie quer in die Landschaft flogen. 

Autos konnten sich bis in die fünfziger Jahre nur die Reichen leisten, und so stieg  das Fahrrad als Alltagstransportmittel im Ansehen nach dem zweiten Weltkrieg bis in die siebziger Jahre immer weiter ab vom Massenfahrzeug, übers Fahrzeug der Arbeiter:innen und Angestellten, bis zum Fahrzeug der finanziell schlecht gestellten, der führerscheinlosen Jugend und der Armen und bekam noch einen Makel aufgebürdet: den der sozialen Minderwertigkeit, der Verächtlichkeit und im Umkehrschluss des Widerstands gegen den Kapitalismus. 

Belgische Radsportlerin Hélène Dutrieu 1898.
(Urheberrecht nicht bekannt) Quelle
Und zum Schluss noch einmal Elmar Schenkel und die Tour de France als Heldenepos. Seit 1903 gibt es sie, und war von Anfang an ein literarisches Ereignis. Sie enstand aus dem Wettstreit zweier Rivalen und klingt wie eine Geschichte von Jules Verne, in der ja oft eine Wette am Anfang der Handlung steht, die letztlich von den Medien gesteuert wird. Die Tour de France entstand aus einem Wettstreit der Medien um Auflage. Auch Kommerz und Doping waren von Anfang an dabei. Vor dem Publikum spielt sich so nun jedes Jahr ein gigantischer und archaischer Kampf der Radritter um Etappensiege und Gesamtsieg ab, begleitet von Intrigen, Verdächtigungen, Tragödien und Triumphen, und immer wieder wird ein sagenhafter Held vom Sockel gestürzt, wenn sich offenbart, dass er gedopt war. 

Die Langstrecken-Radrennen für Frauen begannen übrigens schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Europa, Amerika und Australien, 1869 auch in Frankreich mit der Fahrt Paris - Rouen. Teil der Olympischen Spiele wurde der Frauenradrennsport aber erst 1984. 

Das Trauma der Erfindung des Fahrrads wirkt immer noch. Ich habe den Eindruck, dass das Fahrrad nach dem Krieg bis weit in die siebziger Jahre hinein, politisch und weltanschaulich nicht sonderlich aufgeladen war (Landfrauen und Jugendliche fuhren es halt), anders als am Anfang und anders als heute wieder. Ab 80er Jahren aber wird das Fahrrad erneut mit Symbolik aufgeladen. Es steht für eine falsche Verkehrspolitik und den Protest dagegen, es hat einen neuen literarischen Auftrag bekommen (wovon auch mein Blog zeugt). Es steht auch heute noch nicht nur für individuelle Freiheit (vom Autostau), Frauenemanzipation, Anarchie (notorische Regelverletzungen), sondern wieder für Agitation (der Fahrradaktivist:innen) und nun eben auch massiv für den Vorwurf an unsere Autogesellschaften, lebensvernichtend zu sein, die Gesundung der Städte zu verhindern und die Erderwärmung lebensgefährlich anzuheizen. Radfahrende provozieren ähnliche Abwehrreaktionen wie einst: Verachtung, Beschimpfungen, physische Bedrohungen und - was immer geht - die Behauptung, Radfahren sei gefährlich für Radfahrende selbst und für alle anderen, die ihnen begegnen. 

Aber darüber schreibe ich ja oft genug, sodass für heute Schluss ist mit der Exkursion in die Gedankenwelt der schreibenden Zunft. 

Ich empfehle das Buch Cyclomanie von Elmar Schnekel, das mich zu diesem Artikel angeregt hat, zur Lektüre. Die Kindl-Version kostet nur 9,45  Euro, und man bekommt interessante und neue Perspektiven zu sehen. 




4 Kommentare:

  1. Da war der Fehlerteufel fleißig:
    ... Vulkanausbruchs 2015 ..
    ... schon 2013 (zwei Jahre vor dem Vulkanausbruch) ...

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  2. Ich finde Ihren Text hoch interessant, weil ich selber Reiter bin. Meine Fehler beim reiten resultieren meistens durch das Fahrradfahren (behaupte ich mal), wie zum Beispiel der „Kinderwagenschiebegriff", was der gleiche Griff ist wie der beim "Fahrrad lenken.
    Ein Pferd bewegt sich auch ganz anders fort. Man selbst muss mit den ganzen Körper mitgehen, treiben, steuern, parieren und 10 Sachen gleichzeitig machen. In der Regel sind Personen, die das Reiten lernen, ein Jahr an der Longe, bevor man sie alleine reiten lässt. Fahrradfahren lernt man in der Regel schneller.
    Kleiner Nachtrag zu ihrem Artikel über Sättel: Es gibt für das Fahrrad ein Sattelgelenk, das auf den Namen "Freibeik" hört. Es soll die Bewegung machen, die das Pferd beim laufen macht, und so die Hüfte unterstützen. Ich habe es vor einem Jahr getestet auf der Eurobike und fand es wirklich gut.
    Dass Pferde eine wichtige Rolle bei der Emanzipation gespielt haben, sollte inzwischen bekannt sein. Während früher nur Männer ritten und es Frauen in der Regel verboten war zu reiten, reiten heute so gut wie nur noch Frauen, zumindest im Freizeitsport. Ich kenne es als Junge, beim Reiten nur zwischen Frauen zu sein, und als Elektroniker nur zwischen Männern. Jeder Mann, der Angst hat unterdrückt zu werden in einer Gruppe mit ausschließlich Frauen, braucht diese nicht zu haben, denn sie tun es einfach nicht. Ich denke, diese Angst kommt daher, dass Männer dies in der Tat noch manchmal machen (diese Aussage habe ich schon häufiger gehört von anderen Männern.).

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    1. Danke Fabske, das ist interessant. Ich bin auch jahrzehntelang geritten und auch Fahrrad gefahren damals, habe aber nicht bemerkt, dass mich das Radfahren beim Reiten beeinflusst hätte, auch umgekehrt nicht. Aber ich habe als Jugendliche alles gleichzeitig gelernt, da geht das vermutlich. Übrigens natürlich in einer wohltuend weiblichen Gruppe. 😊

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