12. März 2025

Autofahrer sehen schlecht

Sechs Prozent der Menschen, die Auto fahren, sehen schlecht, weil sie keine Sehhilfe tragen oder eine Augenerkrankung haben. Aber abgesehen von medizinischen Gründen, sehen Autofahrende insgesamt vieles nicht, was sie sehen sollten. 

Der Berufsverband der Augenärzte schätzt die Zahl der Verkehrsunfälle auf 300.000 im Jahr, die auf schlechtes Sehvermögen zurückgehen. Eine Studie ergab, dass von den 99 Prozent, die ihre Sehfähigkeit als gut oder sehr gut bezeichneten, 16 Prozent nur noch unter 70 Prozent der gesunden Sehfähigkeit hatten. Die meisten Sehfehler lassen sich mit Brillen oder Operationen beheben. Der Grüne Star (Glaukom) verengt allerdings das Sehfeld so massiv, dass Verkehrszeichen oder Radfahrende komplett aus dem Blickfeld verschwinden, und Radfahrende dann wie aus dem Nichts aufzutauchen scheinen. 

Glaubt man der Presse und der Polizei, dann ist "übersehen" ein häufiger Grund für Zusammenstöße mit Radfahrenden, Fußgänger:innen oder Stadtbahnen.

Das hat etwas damit zu tun, dass wir das meiste nicht sehen, was wir für unwichtig halten. Die meisten Autofahrenden sind auf die anderen Autos konzentriert, Fußgänger:innen auf dem Gehweg spielen für ihre Verkehrswelt keine Rolle und werden gar nicht gesehen. Sie sind unbedeutend. Nur so kann es passieren, dass Fußgänger:innen von einigen Autofahrenden auch dann nicht erkannt werden, wenn sie auf einen Zebrastreifen treten. Sie scheinen einfach nicht da zu sein, sie werden nicht gesehen. Ähnliches gilt für Radfahrende (vor allem wenn sie in Gehwegbereichen auf Radwegen radeln). Sie werden aber auch "übersehen", wenn sie in einem Kreisverkehr herankommen, in den ein Autofahrer hineinfahren möchte (nicht von allen, aber von manchen). Das Fahrrad ist zwar sichtbar, wenn der Autofahrer nach links in den Kreisverkehr guckt, aber der Mensch hinterm Steuer hält nur nach Autos Ausschau. Daraus erkläre ich mir auch, dass gerade so große Fahrzeuge wie Straßenbahnen so oft nicht gesehen werden, auch dann, wenn man gerade über Straßenbahnschienen hinweg illegal oder bei Rot abbiegt. Stadtbahnen fallen aus dem Raster. 

Das Gehirn verarbeitet bei einem komplexen Prozess wie sich schnell durch eine Gegend bewegen zuerst die relevanten Signale, dann die, die wir für weniger wichtig halten, beispielsweise zuerst die Geschwindigkeit eines Autos, das von rechts kommt, dann die Automarke oder Farbe, die man auch oft genug gar nicht bemerkt, also nicht erinnern könnte (siehe hier). Hat man hingegen vor, ein bestimmtes Auto zu kaufen, sieht man plötzlich überall ein Auto dieses Typs fahren. Unsere Wahrnehmung ist extrem selektiv. Das muss sie auch sein, sonst herrscht Reizüberflutung. Hinzu kommt, dass wir das Bild unserer Umgebung nicht eigentlich sehen, sondern in unserem Gehirn zusammensetzen. Was nicht reinpasst, kann dabei gänzlich verschwinden. Wir erkennen es erst, wenn jemand unsere Aufmerksamkeit auf das Detail lenkt. 

Hinzu kommt, dass Multitasking ein Mythos ist. Das menschliche Gehirn ist, anders als wir denken, nicht fähig, gleichzeitig mehrere Dinge zu entscheiden. An mehr als zwei Aufgaben scheitern wir, wenn sie Entscheidungen erfordern. Beim Autofahren oder Radfahren (oder E-Scooter-Fahren) werden zwei Gehirnregionen aktiv, das Sehzentrum und das motorische Zentrum. Sie arbeiten gut zusammen. Kommt eine dritte Aufgabe hinzu, verlangsamt sich dieser Koppelungsprozess. Er bedeutet, dass wir in schneller Folge zwischen Sehen und Handeln (Bewegung) hin und her springen, und diese Sprünge werden dann langsamer, wenn wir telefonieren (mit Freisprechanlage). Ich habe den Eindruck, dass das auch gilt, wenn wir uns für eine regelwidrige Handlung entscheiden. Verbotene Handlungen setzen viele teils hochemotionalisierte Denkprozesse in Gang, beispieslweise Trotz (Wie soll ich denn sonst dorthin kommen?) und Schlauheit (Ist die Polizei in der Nähe?) Wir handeln überhastet, und dann sehen wir die  Stadtbahn nicht, die gerade kommt, und können nicht mehr rechtzeitig bremsen, weil das Gehirn in der Verschaltung noch nach der Priorisierung sucht. Hinzukommt, dass wir auf mehr Sachen achten müssen, wenn wir regelwidrig links abbiegen, denn dieser Weg ist nicht durch Ampeln und Bodenmarkierungen für mich freigemacht worden. 

In der Welt moderner großer Autos kommt noch dazu, dass sie die Rundumsicht extrem einschränken. Aus dem BMW, in dem ich Fahrschule gemacht habe, konnte ich in alle Richtungen durch klare Scheiben rausgucken, beim Rückswärtsfahren sah ich alles, auch das Kind hinterm Heck. Heute verstellen breite A-Säulen den Blick nach schräg links vorn (wo vielleicht gerade der Radfahrer steht, der über die Linksabbiegespur abbiegen möchte, je größer das Auto, desto schlimmer, und Rückbankkopfstützen und schmale Rückfenster den Blick nach hinten. Die Rückwärtsfahr-Assistenten sind dringend nötig, weil man wegen der dicken und oft schrägen C-Säulen gar nichts mehr sieht. Die Außenspiegel gleichen vieles aus, aber man muss auch reingucken. 

Wenn Autofahrende nicht gewillt sind, auf Radfahrende der auch Fußgänger:innen zu achten, wenn sie beim Fahren durch eine belebte Stadt nicht immer auch die Gehwege oder Busse an Haltestellen im Auge behalten, dann werden sie immer wieder von Fußgänger:innen überrascht werden, die auf die Fahrbahn treten, oder von Radfahrenden, die geradeaus fahren wollen, wo sie - die Autofahrenden - nach rechts abbiegen möchten. Je mehr Radfahrende unterwegs sind, desto eher lernen Autofahrende, mit ihnen zu rechnen, weshalb man auch vom  Phänomen "Safety in Numbers" spricht, wonach Radfahrende eher gesehen werden, wenn insgesamt viele unterwegs sind, weshalb der/die Einzelne sicherer ist. 

Entscheidend scheint mir, dass in unserer Verkehrswelt, die Radfahrenden (und Fußgänger:innen) nicht verächtlich als unbedeutend und nebensächlich (oder sogar unerwünscht) abgetan werden, sondern als wichtig, als gleichwertige Menschen betrachtet werden, auf die man auch gerne achtet. 

9 Kommentare:

  1. Ein lauter Pfiff im richtigen Moment zieht den Fokus der Autofahrenden auf sich. Funktioniert zu Fuss oder mit dem Fahrrad. Aber darauf Verlass ist nicht geben. Denn die 5% aggressiver Autofahrenden gibt dann trotzdem Gas. Die restlichen sind zumeist dankbar für das sich Bemerkbar machen.

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    1. Pfeifen? Gar eine Hand vom Lenker nehmen? Ist gefährlich und dauert lang.
      Wenns wirklich eng wird, brülle ich lauthals. Vorteil: das geht ruckzuck und nach Brüllen ist mir in dem Moment eh zumute. Das hat bisher immer funktioniert.
      Nur bei Fußgängern bin ich mittlerweile vorsichtig, weil die manchmal erstarrt stehen bleiben und es dann wirklich kritisch wird.

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  2. "Glaubt man der Presse und der Polizei, dann ist "übersehen" ein häufiger Grund für Zusammenstöße mit Radfahrenden, Fußgänger:innen oder Stadtbahnen."
    Dieser Formulierung darf man natürlich nicht glauben, auch wenn sie machmal stimmen mag. Die Polizei nimmt sie, wenn sie es nicht besser weiß (also fast immer). Dass sich ein Autofahrer verschätzt hat, liest man nie; genausowenig, dass Vorsatz im Spiel war. So wird Autogewalt systematisch verharmlost.
    Thomas

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    1. 10 Sekunden "Übersehen" war der Tod von natenom!

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    2. Das stimmt. Ich frage mich aber immer noch, wie man nachts auf gerader Strecke einen beleuchteten Radfahrer übersehen kann. Ich fahre mit dem Auto regelmäßig über eine Landstrasse an der parallel ein Weg lang führt. Beleuchtete Radfahrer sieht man da meilenweit, selbst bei Regen. Wo hat der hingesehen? Oder hat er überhaupt was gesehen? Fehlte die Brille? Ich versteh es bis heute nicht. Es war so unnötig.
      Karin

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  3. Danke für den detaillierten Artikel zu dem Thema. Auch wenn der nur weiter bestätigt, was wir schon wissen, dass ein Verkehrssytem, das unsere menschlichen Schwächen nicht von vornherein mitdenkt und in Infrastruktur umsetzt dergestalt, dass gezielteU ertretungen nicht möglich sind und die unvermeidbaren Fehler nicht schlimme und schlimmste Konsequenzen haben, nicht tauglich ist.

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  4. "Übersehen" ist das Synonym für "Nicht hingesehen". Ich postuliere mal, dass viele der Übersehen-Unfälle durch konzentriertes Autofahren vermeidbar gewesen wären. Wenn man sich mal an Abbiegesituationen hinstellt und einfach nur beobachtet, sieht man, dass die meisten Autofahrer nicht nochmal einen Schulterblick machen. Also beim Abbiegen übersehen, nein, nicht hingesehen, nicht umgeblickt. Wer beim Wenden die Strassenbahn übersieht, hat nicht hingesehen. Ein Optiker hat mir mal erzählt, dass bei ihm Leute aufschlagen, die eine Lesebrille wollen und anschließend mit einer deutlichen Fernbrille gehen. So fahren manche Leute auch, als ob sie nichts sehen würden. Ein verpflichtender Sehtest alle paar Jahre würde da schon weiter helfen. Ergebnis kommt zum Führerschein, so wie TÜV-Bericht zum Fahrzeugschein.
    Karin

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    1. Ich, als Fußgänger schließe mich der Einschätzung gegenüber Fahrradfahrern zu 100% an

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  5. Ich schließe mich der Einschätzung von Marmotte27 an:
    Die diversen Ausprägungen des Automobilismus widersprechen grundlegend den Prinzipien von 'Artgerechter Haltung' des homo sapiens.
    Über die im Artikel beschriebenen Probleme hinaus verlangt unser Gehirn unweigerlich nach einigen Minuten eine Auszeit und schaltet auf stand by.
    Dass wir davon nichts merken liegt in der Natur der Sache. Unter anderem deswegen gibt es in Flugzeugen Copilot:innen und existieren im Bahnverkehr zahlreiche technische Rückfallsicherheiten, die in Aktion treten, wenn der hauptverantwortliche homo-sapiens mal wieder defokussiert ist.
    Beim Autoverkehr kommt verschärfend hinzu, dass es keine regelmässigen Gesundheitsüberprüfungen gibt, keine Überprüfungen charakterlicher Eignung auch nach schweren/tödlichen Verfehlungen, und vor allem, dass es für viele Menschen die Falle der selbst- oder fremdgeschaffenen Abhängigkeit vom Autofahren gibt.
    'Leichte' Grippe und Angst vor dem Arbeitsplatzverlust?
    Naja egal, Medikamente rein und auf gehts ...
    Schlafmangel (entspricht durchaus höheren Alkoholpegeln)?
    Naja egal, ein doppelter Kaffee hilft bestimmt, und mir bleibt doch eh nichts anderes übrig, weil es da wo ich hingezogen bin mangels Bedarf (haben ja alle mind. ein Auto) keinen funktionierenden ÖPV gibt ...
    Hermann Knoflacher hat durchaus gute Gründe, wenn er für eine Obergrenze des Autoverkehrs in Höhe von 5-10% des heutigen Aufkommens plädiert.
    Alfons Krückmann

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