2. Januar 2023

Gewalt durch Mobilität

Ich habe oft darüber geschrieben, dass unser Verkehrssystem gewalttätig ist. Im Juni hat das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung eine Analyse veröffentlicht, die den Titel hat: Gewalt durch Mobilität. 

Die beiden Autorinnen vertreten Ansicht, dass es im Straßenverkehr, der vom privaten Autoverkehr geprägt ist, gewaltsam zugeht: "Viele Menschen werden bei Unfällen verletzt oder sterben, durch Lärm, Abgase und Feinstaub werden Menschen krank und deren Lebenserwartung verkürzt, das Primat des Autos bestimmt den öffentlichen Raum. Die Verkehrswende, weg vom Pkw, würde nicht nur einen großen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Sie würde Menschen vor dieser täglichen Gewalt schützen." 

Quelle, Ifu Bayern
Sie nennen vor allem viele Zahlen: 3000 Verkehrstote jährlich, 80.000 Tote durch Umweltbelastungen, 360.000 Menschen verletzt. Die Lärmbelastung an Hauptverkehrstraßen übersteigt mit 65 dB(A) den Grenzwert von 50 dB(A), wobei sich der Lärm für unsere Ohren alle 10 dB(A) verdoppelt. Dieser Lärm macht direkt krank (erhöhter Blutdruck, erhöhte Blutfette, erhöhter Blutzucker, Arterienverkalkung, Herzinfarkt). Außerdem ist der Autoverkehr für ein Fünftel des Feinstaubs in unserer Luft verantwortlich, 70 Prozent davon fallen auf den Reifenabrieb (auch durch Elektroautos nicht zu ändern). Das atmen wir zum Großteil direkt ein. Das wiederum führt zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und kann zu Lungenkrebs führen, vor allem, wenn die Leute sich wenig bewegen und in Autos sitzen statt mit dem Rad zu fahren

Und natürlich vermüllt der Autoverkehr nicht nur die Luft, sondern auch den Raum. In Berlin, so sagen die beiden Autorinnen, nehme der vom Auto beanspruchte Raum 13 Prozent der Verkehrsfläche ein. (Diese Zahl verwundet mich etwas - sie wirkt klein - denn ich habe vor einiger Zeit andere Zahlen beschrieben. Demnach brauchen in Berlin allein schon die parkenden Autos 19 Prozent der Verkehrsfläche.) Und immer noch werden neue Straßen gebaut und Flächen asphaltiert, die Landschaften durchschneiden oder Ökosysteme zerstören. Die StVO gibt dem fließenden Autoverkehr den Vorrang, was bedeutet, dass sich alle Menschen in ihrem Verhalten diesem Autoverkehr anpassen und unterordnen müssen. Die Autorinnen schreiben

"Nimmt man diese Auswirkungen zusammen, kann man durchaus von einer Gewaltausübung durch den Straßenverkehr sprechen – durch seine schiere Masse und die erheblichen Beeinträchtigungen von Gesundheit, Leben und Bewegungsfreiheit von Menschen."

Auch der Energieverbrauch des motorisierten Straßenverkehr ist immens. Laut Statistischem Landesamt verbrauchen wir in Deutschland fast 100 Millionen Tonnen Erdöl im Jahr. Das Öl kam bisher zu einem Drittel aus Russland, jetzt beziehen wir es von nicht weniger autoritären und menschenrechtsfeindlichen Staaten. Insofern finanzieren wir damit zwangsläufig Diktaturen und Kriege, üben also indirekt Gewalt aus. Wenn wir Bioethanol und Biodiesel beimischen, vernichten wir Lebensmittel und fördern den Hunger auf der Welt. Wir verbrauchen leider auch deshalb immer mehr Treibstoff, weil die Autos immer größer und schwerer werden. Das Durchschnittsgewicht von Pkws hat sich in den letzten 50 Jahren verdoppelt. Für diese Autos sind die Parkplätze oft zu klein und die Straßen zu schmal. 

Außerdem ist der unser Straßenverekehr extrem selektiv: "Er funktioniert nicht für Menschen mit Behinderungen oder alte Menschen oder ganz junge. Im öffentlichen Verkehr fehlt es zumeist an der erforderlichen Barrierefreiheit. In einer Ampelphase schaffen es oft schon bewegliche Menschen nicht ganz über die Kreuzung, denn die Schaltung von Ampelanlagen ist auf Autos ausgerichtet." (Siehe auch: Der fatale Mythos der Gleichberechtigung auf den Straßen.) Alle Ampelschaltungen sind darauf ausgerichtet, dass Menschen in Autos so schnell wie möglich zu ihren Zielen kommen. Alles andere muss warten. Busse und Bahnen sind nur hin und wieder wirklich barrierefrei, Radfahrende fürchten sich auf etlichen Strecken vor einem aggressiven Autoverkehr. Gehwege sind zugeparkt und zugestellt, Baustellen sichern nur Autofahrenden eine schnell Durchfahrt, Fußgänger:innen und Radfahrende müssen sehen, wo sie blieben. 

Da liegt es nahe, dass die beiden Autorinnen eine grundlegende Reform unseres Straßenverkehrsrechts fordern. Sie muss neue Ziele für eine gewaltreduzierte Verkehrsentwicklung definieren: Tempo 30 in Städten, 100 auf Autobahnen, 80 auf Landstraßen, autofreie Sonntage, Vorrang für Rad- und Fußverkehr und für Busse und Bahnen in den Städten und eine einkommensabhängiges Mobilitätsgeld, das anstelle von Pendlerpauschale und Dienstwagenprivileg tritt, die beide bislang Gutverdienende bevorzugen und einer nachhaltigen Verkehrsplanung im Weg stehen. 

Übrigens schlagen die beiden Autorinnen auch vor, dass man die technischen Möglichkeiten für autonomes Fahren verbessert, damit gerade mobilitätseingeschränkte Menschen wieder unterwegs sein können. Wichtiger aber dürfte nach meine Einschätzung sein, dass sich gehbehinderte Menschen mit kleinen Fahrzeugen (E-Dreirädern, E-Rollstühlen etc.) sich auf unseren Straßen bewegen können, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen oder überall auf Barrieren durch geparkte Autos zu stoßen. 

3 Kommentare:

  1. Car- und Bike-Sharing werden zwar angesprochen, aber im Grunde bleibt es bei Schwarz/Weiß: Für individuelle, innerstädtische Mobilität gibts entweder das Auto oder das Fahrrad. "Und ist das Strässlein noch so klein, der SUV muss trotzdem rein." :-)

    Kann es sein, dass wir die tatsächliche (naja, wahrscheinliche) Zukunft der innerstädtischen, individuellen Mobilität komplett ausklammern? Ich kenne leider nur einen einzigen Menschen, der ein https://de.wikipedia.org/wiki/CityEL fährt. Schon seit Jahrzehnten. Und ich persönlich hätte schon immer gerne einen Sciene-Fiction-Segway-Roller gehabt, zum Brötchen-Holen :-) man durfte ihn aber nie auf der Straße fahren.

    Vor uns liegt eine völlig neue technische Verkehrswelt, warum sehen wir sie nicht? Sind Fahrrad und PkW nicht nur zwei Extreme des Spektrums und wir sind blind für alles dazwischen?

    Stefan, Fürstenfeldbruck, Bayern

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  2. Das Problem mit dem Verkehrslärm wird von den Städten nicht konsequent angegangen. Viele Problem mit viel zu lauten Motorrädern, knatternden, stinkenden Mofas und Poserkarren ließe sich über Regelungen durch den Gesetzgeber ganz schnell regeln. Aber man will einfach nicht ran. Alle Probleme werden nur in irgendwelche Berichte und Abhandlungen gefasst, aber nicht angegangen. Für viele Probleme gäbe es mitunter relativ einfach Lösungen, wie z.B. Tempolimits, oder auch technische, wie z.B. Auspuffe nach aktuellem technischen Dämmstand. Da wird aus einer nervenden, brüllenden Karre ganz schnell ein leises Fahrzeug, nach dem sich keiner mehr unsehen wird. Aber dafür brauchts, wie man immer so schön sagt, Eier. Da fehlts halt als.
    Karin

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    1. Es zeigt sich immer wieder, dass das Auto (und alle damit verbundenen Freiheiten (technischer und wirtschaftlicher Art) noch sehr tief in den Köpfen der meisten Menschen verankert ist. An dem, was man mit dem Auto darf (und was der Gesetzgeber folglich nicht regeln darf) misst sich bei uns in Deutschland der Begriff von Freiheit. Die Unversehrtheit der Menschen im Land ist dagegen weniger wert und wird nicht an den Begriff der Freiheit gekoppelt. Aber je mehr wir darüber reden, dass es anders sein kann und muss, desto eher kann sich auch was ändern. Wir dürfen halt nicht müde werden.

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