24. April 2025

Stadt sucht Schuldige - Rad sucht Weg

Es ist Frühlingsfest auf dem Cannstatter Wasen. Mehr Menschen als sonst laufen von der Stadtbahnhaltestelle durch die Hall of Fame zum Wasen und zurück. Mehr sind auf der Rampe vom Radweg König-Karls-Brücke unterwegs. 

Kennen wir, ist zwei Mal im Jahr so: zum Volksfest und zum Frühlingsfest. Früher wurden da munter Schilder aufgestellt mit "Radfahrer absteigen", Sperren stehen uns im Weg, jedes Jahr martialischere. Feste erfordern Maßnahmen. Ich würde das auch gar nicht weiter kommentieren, hätte die Stadt jetzt nicht auf einmal auf den Boden in der Hall of Fame, den von mir schon mal kritisierten Satz "Rad nimmt Rücksicht" mit Kreide auf den Boden gesprüht. Als ob wir Radfahrenden routinemäßig durch bedirndelte und belederhoste Gruppen heizen würden. Die Mahnung haben Aktivisten zum Anlass genommen, darunter zu sprühen: "... und suche Radweg". Recht haben sie. 

Wo ist eigentlich unser Radweg? Es gibt hier keinen einzigen (es gibt nur freigegebene Fußwege), während sich oben ein Dutzend Autofahrspuren kreuzen, auf denen man teils mit dem Rad gar nicht fahren darf. Mit dem Auto kann man in jede Richtung fahren, und zwar ohne dass man Rücksicht auf Wasenbesuchende nehmen muss. 

Und wo ist eigentlich das Problem? Ich radle seit über zehn Jahren drei bis vier Mal die Woche hier durch (wenn ich zum Ruderclub fahre), auch während der Wasen-Fest-Zeiten, wochentags und am Wochenende, und ich habe nie eine für Fußgänger:innen kritische Situation  durch Radfahrende beobachtet oder erlebt. Wenn das vorkommt, dann sehr selten. Es mag sein, dass Menschen, die zu Fuß gehen, der Stadt mitteilen, man sei dort wegen "rasender Radler" seines Lebens nicht sicher. Aber das wäre eine maßlose Übertreibung und entspräche schlicht nicht den wahren Verhältnissen. 

Fußgänger:innen sind in der Hall of Fame mal mehr, mal weniger unterwegs, und sie queren auch oft blicklos unsere Fahrlinien, aber wir sehen sie ja und können hinten vorbei. Radfahrende kommen uns auf irgendwelchen Fahrlinien entgegen und man verständigt sich mit Blicken, wer links und wer rechts radelt. Am Wochenende steht da ein Bus, der mittellose Menschen versorgt, die lange Schlangen bilden, manchmal parken Autos von Sprayern in der Halle. Oder die Sprayer legen ihr Sachen an der Engstelle der Ausfahrt Richtung Neckardamm Wangen/Hedelfingen auf den Boden. Es ist eine komplizierte Fläche, wie Dutzende andere auch, über die man uns auf unseren Fahrrädern schickt, weil man uns keine echten Radwege anbieten will. Und warum soll es ausgerechnet zu Wasenzeiten einer Ermahnung bedürfen? Warum überhaupt? 

Der Slogan "Rad nimmt Rücksicht" suggeriert einmal mehr, wir Radfahrenden seien das Problem und die Rücksichtslosen im Straßenverkehr. "Auto nimmt Rücksicht" sehe ich nirgendwo plakatiert oder auf die Fahrbahn gesprüht, nicht vor Schulen oder Kindergärten, nicht an zugeparkten Gehwegecken oder im Schwabtunnel, wo sich etliche Radfahrende echt unsicher und gejagt fühlen. Wir sind nicht das Problem - der Autoverkehr, fahrend wie stehend ist es - wir sind vielmehr die Lösung unserer Verkehrsprobleme. 

Diese Markierung offenbart einmal mehr die Schwächen der Stuttgarter Radverkehrspolitik. Wieso müssen wir Radfahrende ständig durch Fußgänger:innen radeln? Wieso müssen wir auf 270  km (einschließlich 150 km freigegebener Gehwege) von 360 km zum Radfahren ausgewiesener Routen auf Menschen zu Fuß Rücksicht nehmen, weil wir unsere Wege mit ihnen teilen müssen? Wo sind die Radwege, die uns von Fußgänger:innen separieren? 

Rücksicht ist ein vager Begriff. Er ist Auslegungssache und hängt von subjektiven Eindrücken ab. Oftmals schätzen Menschen zu Fuß den Radverkehr völlig falsch ein und schreiben ihm eine Gefährlichkeit zu, die er nicht hat. Das liegt auch daran, dass Fußgänger:innen Fahrräder oft gar nicht kommen sehen und dann erschrecken, wenn sie da sind. Das geht auch Autofahrenden so, wenn sie einen Radweg überqueren. Den Fußgänger haben sie gesehen, den Radfahrer nicht. Radfahrende sind die am meisten nicht gesehenen Verkehrsteilnehmenden, die deren Geschwindigkeit und Verhalten am öftesten falsch eingeschätzt werden. 

Am rücksichtslosesten ist jedoch objektiv der Auto- und Motorradverkehr. Er ist gewissermaßen systematisch rücksichtslos, weil er bei uns starke Privilegien besitzt. Er ist sehr laut, manchmal absichtlich laut, er ist gefährlich schnell, er braucht viel Platz in der Stadt, er benutzt zum Parken zusätzlich noch Fußgängerflächen, manchmal so, dass kein Platz mehr für Menschen zu Fuß bleibt, er stellt Gehwegecken zu. Und er ist zu oft für andere tödlich. 

Beim Radverkehr beschweren sich Menschen zu Fuß meistens über Gehwegfahrten in zu hoher Geschwindigkeit und über viel zu enges Vorbeifahren. Außerdem werden Fahrräder zuweilen auf Gehwegen so abgestellt, dass sie den Fußverkehr behindern. Das ist in der Tat rücksichtslos. Autofahrende beschweren sich darüber, dass Räder auf Fahrbahnen unterwegs sind und sie aufhalten. Das ist nicht rücksichtslos. Beim Nehmen der Vorfahrt stehen sich Autofahrende und Radfahrende in nichts nach. 

Radfahrende finden Fußgänger:innen dann rücksichtslos, wenn sie auf Radwegen gehen, vor allem auf steilen Radwegen (Ferdinand-Leitner-Steg), wo das Antreten nach dem Abbremsen echt hart ist, oder wenn sie mitten auf der Fahrradstraße gehen, also gewissermaßen die paar Flächen, die Radfahrende als ihre zugewiesen bekommen, nicht respektieren. 

Untersuchungen zeigen übrigens, dass Autofahrende, Radfahrende und zu Fuß Gehende ungefähr gleich viele Regelverstöße (die nicht alle mit Rücksichtslosigkeit zu tun haben) begehen und zwar so um die 97 Prozent. Radfahrende suchen dabei meist ihre eigene Sicherheit und Energieersparnis und Autofahrende und Fußgänger:innen wollen vor allem Zeit gewinnen. Wobei der Zeitgewinn beim Fahren eine Illusion ist, der Zeitgewinn, den ein Fußgänger hat, wenn er über eine rote Ampel geht, ist hingegen durchaus spürbar. 

12 Kommentare:

  1. Die Stadt hat nicht wirklich einen Plan um den Radverkehr zu fördern; wie könnte es sonst sein, dass auf der Hauptradroute 1, die in Bad Cannstatt stadteinwärts über die Kegelen- und Mercedesstraße zur König-Karl-Brücke führt, diese im Bereich Kegelen-/Mercedesstraße, während 6 Wochen im Jahr(Frühlings- und Volksfest)einfach abrupt endet - ohne Hinweis, was man als Radfahrender jetzt tun muss.

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    1. Ist das eigentlich noch aktuell, das der Neckarradweg auf der gegenüberliegenden Seite an der B10 für die Durchfahrt gesperrt ist? Das war jedenfalls in den letzten Wochen immer noch so. Ich nutze die B10 Seite oft als Alternative, weil es da zumindest tagsüber wesentlich ruhiger und weniger frequentiert ist. Es würde mich aber überhaupt nicht wundern, wenn man jetzt für's Frühlingsfest tatsächlich beide Neckarseiten für den Radverkehr sperrt, bzw. wie immer eigentlich die Durchfahrt erschwert.
      Ich werde in den nächsten Wochen diese Strecke so gut es geht meiden!
      Sandy

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    2. Ich bin noch nicht langgeradelt, aber vor einigen Wochen begann der Abbau der Baustelle, der Gasturbinenbau in der Müllverbrennung (Kraftwerk Münster) ist fertig. Wobei du ja erst einmal von irgendwoher auf diesen Radweg an der Neckartalstraße hinkommen musst. Und durch die Wilhelma-Besuchenden schlingern, ist auch kein Vergnügen. Schreib mir, was du machst und wie du fährst.

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  2. Übrigens hat jemand auf Mastodon dem Satz eine hübsche Interpretation hinzugefügt. Da das ja kein Imperativ ist, sondern eigentlich eine Feststellung, könnte man es ja auch als Lob an uns lesen, als generelle Anerkennung für die enorme Rücksichtnahme, die wir, und nur wir Radfahrenden, allüberall üben.

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  3. "(...) während sich oben ein Dutzend Autofahrspuren kreuzen, auf denen man teils mit dem Rad gar nicht fahren darf. "
    Wäre es da nicht wünschenswert verstärkt auf die immanente Botschaft solcher Formulierungen zu achten bzw. diese zu reflektieren?
    Wie kann eine Fahrspur eine "Autofahrspur" sein, wenn dort auch Radverkehr zugelassen ist, wie es sich ja aus dem "teils" ergibt?
    Das schließt sich nicht nur rein logisch aus, sondern es wird auch eine (unterschwellige?) Botschaft an die Autofahrenden gesendet: "Die Fahrbahnen gehören den Autos, Räder gehören auf die Radwege".
    Insofern können solche Formulierungen also durchaus, wenngleich unwillentlich, dazu beitragen, den Boden für weitere Anstiege von automobiler Gewalt und automobiler Raumnahme zu düngen.
    Für eine ökologische und biosphärenverträgliche 'Verkehrswende' braucht es stattdessen eine Abkehr vom fatalen Trend des "Die Fahrbahn gehört den Autos", und stattdessen u.a. viel(!) mehr Fahrradstraßen, wie es Verkehrsexperten (zB H.Monheim) seit Jahren aus guten Gründen fordern, eine gründliche Abschaffung der autogerechten Radwegbenutzungspflichten (-> duale Infrastruktur).
    Damit sind natürlich nicht alle Probleme gelöst, aber es wären Schritte in die richtige Richtung.
    Alfons Krückmann

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    1. p.s.
      kleine Anregung zu Sprache/Formulierung/Spinning aus aktuellem Anlass:
      gestern kamen die Verkehrstotenzahlen heraus.
      Typisch für die Aufbereitung / das Spinning ist die Tagesschau, sowie ungefähr gleichlautend nahezu alle 'Leitmedien' mit der Headline, dass jeder 6. Verkehrstote ein Fahrradfahrer sei.
      Abgesehen davon, dass die Fahrradfahrerinnen neuerdings wieder unter den Tisch gefallen sind (AfD-Kulturkampf lässt grüßen), erfährt das Publikum nicht, dass erheblich mehr Autofahrende, sowie auch erheblich mehr Motorradfahrende zu Tode kamen.
      Dazu kommt noch das sprachliche Spinning, dass es sachlich gesehen zwar nur um die Verkehrsunfalltoten geht, aber mit der falschen Formulierung 'Verkehrstote' die erhebliche Zahl der durch Lärm und Abgase des Auto- und Motorradverkehrs ums Leben gekommenen Menschen komplett aus dem Radar verschwinden, nach dem Motto: "Abgasskandal? Feinstaubtote? Lärmtote? Nie gehört".
      Vermutlich fällt sowas der Mehrheit schon gar nicht mehr auf, und die Kopplung von 'Verkehrstote' und 'Radfahren' ist bereits fest in die Hirne eingehämmert worden?

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    2. Das Fahrrad zum für ihre Fahrenden gefährlichen Verkehrsmittel erklären, ist leider usus. Es ist nicht ganz einfach, das mit Zahlen zu entkräften, weil es beispielsweise keine genauen zu den Lärm- und Abgastoten gibt. Es ist für mich jedesmal mühselig, die Zahlen ins Verhältnis zu den gefahrenen Kilometern oder der Fahrzeit im Straßenverkehr zu setzen, weil auch dazu die Zahlen für mich vage bleiben. Ein leidiges Thema, um das ich mich dieses Jahr eigentlich drücken wollte. 😊

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    3. Selbst wenn es stimmte, ist da immer noch die Tatsache, dass die Mehrzahl der Radler bei Kollisionen mit Motorisierten sterben...

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    4. Ich habe mich auch immer gefragt wie man da Zahlen sinnvoll ins Verhältnis setzen kann. Vielleicht: gerade gar nicht und man macht es einfach grob am Jahr Lebenszeit fest, wobei klar ist, dass die Lebensumstände entscheidend sind. Ohne Auto habe ich halt viele andere Entscheidungen so getroffen, dass meine Strecken das auch erlauben. Und weiter weg fahre ich Bahn, auch Reisezeit in der ich sehr sicher nicht zur Verkehrsunfallstatistik im Individualverkehr beitrage.
      Die abstrakten Zahlen je Strecke oder Reisezeit werden ja eher nicht verstanden und/oder individuell beliebig negiert.
      Also eigentlich wäre spannend zu schätzen, wie wahrscheinlich eine Person mit Lebensumständen X (a) die nächsten n Jahre unverletzt bleibt / überlebt und (b) eine andere Person verletzen / töten wird. Die Lebensumstände X sollten dabei einer überschaubaren Anzahl Kategorien sein.

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  4. Ich habe für diesen Post (https://dasfahrradblog.blogspot.com/2024/07/muss-erst-was-passieren.html#more) mal recherchiert und Folgendes herausgefunden: "
    Eine Stunde Zufußgehen ist genauso riskant wie eine Stunde Autofahren (für die Autofahrenden selber), Radfahren ist um das Dreifaches so riskant wie Autofahren, und Motorradfahren sprengt jegliche Vorstellung. Auf eine Billion Stunden pro Person sterben 25 Fußgänger:innen, 25 Autofahrende, 75 Radfahrende und 2 Zugfahrende, aber 440 Motorradfahrende. Schwere Unfälle sind also für den Einzelnen ein äußerst seltenes Ereignis. Und das ist auch gut so. Das bedeutet, dass auch an als lebensgefährlich betrachteten Stellen im Straßenverkehr nur selten schwere Unfälle passieren. Solange zu warten, bis das passiert (was ja auch zu keiner Änderung führt), bedeutet, dass Tausende Radfahrende eine gefährliche Stelle mit Angst (zumindest mulmigen Gefühlen) fahren, und viele darum meiden. "

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    1. Nochmal zu diesen Zahlen: von Fußgängern und Radfahrern müssen nur Radfahrer den Verkehrsraum überwiegend mit Motorisierten teilen.
      3/4 aller Unfälle mit verletzen oder toten Radlern finden mit Motorisierten statt, und diese sind dabei zu 3/4 die Verursacher.
      Das relativiert die inhärente Gefährlichkeit des Radfahrens deutlich.

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    2. Das stimmt, allerdings ist ja gerade dieser Umstand, dass man mit dem Fahrrad zwischen Autos fahren muss, der die Leute sagen lässt, Radfahren sei ihnen beispielsweise in der Stadt viel zu gefährlich. Ich versuche, wie du weißt, immer dagegen zu halten, zumal tödliche Unfälle ein seltnes Ereignis sind, allerdings nicht so selten, dass ich zwei Leute kannte (meine Cousine, die von einem Lkw totgefahren wurde und einen Ruderkameraden, der bei Sturz in einer Kurve starb, nachdem er einem entgegenkommenden Radler ausgewichen war), während ich keinen kenne, der im Auto starb, was bei solch kleinen Zahlen natürlich auch nur Zufall ist.

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