So resümiert die taz einen Artikel über Regeln im Straßenverkehr, die dem Autoverkehr dienen, nicht aber dem Radverkehr oder dem Fußverkehr.
Der Artikel geht der Frage nach, ob Regeln wirklich für alle da sind. Gemeint ist damit: Nützt ein Regelwerk allen gleichermaßen und schränkt es alle gleichermaßen ein? Beim Straßenverkehr kann ich die Frage mit Nein beantworten. Er ist seit den 40er Jahren so organisiert, dass der Autoverkehr möglichst hindernisfrei rollen kann. Der Autoverkehr wird intern geregelt (durch Ampeln, Vorfahrtsregeln und Geschwindigkeitsbegrenzungen), aber so, dass der Autofahrer die so wenig Verzögerungen wie möglich hinnehmen muss. Nur kurz wird der Autoverkehr mal angehalten, damit der Fußverkehr eine viel befahrene Straße queren kann. Er hat Kraftfahrstraßen, Autobahnen und Schnellstraßen zur Verfügung, auf denen sich nichts anderes befinden darf als Autos, die schneller fahren können als 60 km/h. Die Wege für Autos durchschneiden und zerstören Landschaften und hindern Menschen ohne Autos (und übrigens auch Wildtiere) über Kilometer daran, auf die andere Seite zu gelangen. Der Fußverkehr darf nur an den Rändern der Straßen gehen, wenn es einen Gehweg gibt. Er hat zwar manchmal Fußgängerzonen, aber da fahren immer auch Autos rein. Der Radverkehr wird zwischen Fahrbahnen, Gehwegen und Radwegen hin und her geschoben und befindet sich immer in Gefahr, auf der Fahrbahn oder einem Radweg von Autofahrenden missachtet zu werden.
Anlass für die taz-Überlegung ist ein Zebrastreifen, den Bürger:innen in Dresden an der Stelle auf eine Straße gemalt haben, wo viele Schüler:innen hinüber müssen.
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Tagesschau |
So lernen sie beizeiten, dass sie als kleine (später auch größere) Menschen nicht den Anspruch erheben dürfen, die Verkehrsregeln auf ihrer Seite zu haben, es sei denn, die fahren Auto. Und weil die Autos so groß, schwer und schnell sind, sind sie stets gefährlich und müssen immer beachtet werden, auch dann, wenn man selber Vorrang hätte (lieber mal warten, als sich totfahren lassen!). Solange sie zu Fuß gehen oder Fahrrad fahren, erleben sie, dass Verkehrsregeln nicht ihrem einfachen und angenehmen Vorankommen dienen (lange Wartezeiten, Querungsverbote, versperrte Gehewege), sondern dem Vorankommen des Autoverkehrs. Und sie erleben, dass Autofahrende die wenigen Regeln, die zum Schutz von Fußgänger:innen aufgestellt wurden (Vorrang an Zebrastreifen oder vor abbiegenden Fahrzeugen an Straßeneinmündungen), nicht zuverlässig einhalten, sondern brechen, und dies überwiegend ungestraft. Denn wer das Sagen hat, stellt nicht nur die Spielregeln auf, sondern bestimmt auch, wann er sie brechen darf, zum Beispiel, wann er auf dem Gehweg parken, durch eine für den Autoverkehr gesperrte Straße fahren oder schneller als erlaubt fahren darf, was immer Auswirkungen auf den Fuß- oder Radverkehr hat, also übergriffig und oft eben auch gefährdend ist. Und er bestimmt auch, wer die Regeln nicht brechen darf: nämlich der Radverkehr und der Fußverkehr.
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Linksabbiegen über den Charlottenplatz |
Egal, ob im Auto, auf dem Fahrrad oder zu Fuß, alle Verkehrsteilnehmenden übertreten Regeln, und das in ungefähr gleichem und sehr hohem Maß. Die These, es seien vor allem Radfahrende, die sich nicht an Verkehrsregeln hielten, ist nicht haltbar und auch nicht belegbar. Regelverstöße von Radfahrenden (übrigens auch von Fußgänger:innen) sind nur deutlicher sichtbar, etwa, wenn einer durch die Fußgängerzone radelt (in der gleichzeitig übrigens ein oder zwei Autos stehen, die da auch nicht hätten reinfahren dürfen) oder bei Rot über eine Ampel fährt, oder wenn ein Fußgänger bei Rot über eine Fußgängerfuhrt läuft. Die Regelverstöße, die Autofahrende begehen, fallen uns kaum (noch) auf: mit dem Handy telefonieren, 10 km/h zu schnell fahren, falsch abbiegen, nicht blinken vor dem Abbiegen, ein Stoppschild missachten, überholen, wo man nicht darf etc. Auch wenn Regelverstöße unter allen Verkehrsarten gleich verteilt sind, sind die von Autofahrenden unabweisbar für andere am folgenschwersten (sogar immer wieder auch tödlich) und die von Fußgänger:innen am ungefährlichsten für andere. Und auch ein Radfahrer kann mit dem Fahrrad nicht mehrere Menschen gleichzeitig töten, so wie es ein Autofahrer mit seinem Auto kann.
Die Regeln für Autofahrende dienen übrigens fast ausschließlich dazu, andere (und manchmal auch Insass:innen) vor der potenziell tödlichen Wucht des Autos zu schützen, die Verkehrsregeln für Fußgänger:innen dienen nur dem eigenen Schutz (nicht bei Rot über eine Fußgängerfurt gehen) und die für Radfahrende dienen dazu, sie vom Autoverkehr fernzuhalten (Benutzungspflicht von Radwegen) und einem Minimum an Schutz für Fußgänger:innen (auf freigegeben Gehwegen nur Schrittgeschwindigkeit). Die Verkehrsregeln für den Autoverkehr sollen ein möglichst reibungsloses Vorankommen des Individuums im Auto sicherstellen. Die Regeln für den Fußverkehr sollen garantieren, dass sie den Autoverkehr nicht stören. Und die Regeln für den Radverkehr dienen seiner Begrenzung auf wenige Flächen, wo sie den Autoverkehr nicht stören (Kreuzungspassagen auf Fußgängerfurten, gemischte Geh-/Radwege, Fahrradampeln mit langen Wartezeiten).
Die eigene Sicherheit ist bei Radfahrenden ein häufig genannter Grund, wenn sie regelwidrig fahren, also auf verbotene Gehwege ausweichen. Das ist ein Grund, den Autofahrende nie angeben. Sie müssen es nicht, denn der Straßenverkehr ist so organisiert, dass sie möglichst ungefährdet und bequem ans Ziel kommen. Die StVO sichert ihnen seit Jahrzehnten Störungsfreiheit zu: Fußgänger:innen sind an den Rand verbannt und dürfen Straßen nur queren, entweder, wenn gerade kein Auto kommt oder wenn eine Ampel den Autoverkehr mal kurz anhält. Der Radverkehr soll am besten nicht auf Fahrbahnen fahren, sondern auf Radwegen oder Radfahrstreifen. Der Autoverrkehr selbst sorgt (weitgehend ungestraft) dafür, dass Radfahrende auf Straßen ohne Radinfrastruktur es mit der Angst zu tun bekommen, entweder weil sie zu knapp und zu schnell überholt werden oder weil sie angehupt werden, und weil sie alle wissen, dass sie auch mal von einem Autofahrer totgefahren (oder angefahren) werden können.
Eine Verkehrssituation zu ändern, die Radfahrenden Angst macht, ist politisch und verkehrsrechtlich unglaublich schwierig und langwierig (Beispiel Schwabtunnel oder Waldburgstraße) und scheitert oft am politischen Willen. Aber auch der Fußverkehr hat es schwer, seine Situation zu verbessern: direkte Wege vorzufinden, einen Zebrastreifen zu bekommen, auf Gehwegen abgestellte Autos wegzukriegen, Baustellenumleitungen vorzufinden, die nicht über die gegenüberliegende Straßenseite führen und so weiter.
Das zeigt, wer die Macht hat. Denn Mächtige können anderen Schutz oder Bequemlichkeiten zugestehen, müssen es aber nicht. Es ist reiner good will. Der Autoverkehr beherrscht unsere Städte und Dörfer (unsere Welt) in einem solchen Ausmaß - getragen von wirtschaftspolitischen Überlegungen, Ideologie (männlich dominiert) und Gewohnheit -, dass wir ihn als allmächtig anerkannt haben. Wir beugen uns ihm. Jetzt könnte man sagen, die Mehrheitsgesellschaft wolle das so und deshalb müsse das so sein. Immerhin besitzen 77 Prozent der deutschen Haushalte mindestens ein Auto. Pro 1000 Einwohner:innen gibt es knapp 590 Pkw. In Städten aber sind Autofahrende nicht in der Mehrheit, also die, die zu einer bestimmten Zeit mit ihren Autos fahren. Es laufen 31 Prozent der Menschen zu Fuß, mit Bus und Bahn fahren 21 Prozent (die man zu den Fußgänger:innen dazuzählen muss) und mit dem Fahrrad 15 Prozent. Mit dem Auto sind nur 33 Prozent unterwegs. Und selbst insgesamt stellen Autofahrten nur 40 Prozent aller zurückgelegten Wege dar. 37 Prozent laufen zu Fuß (zur Bahn oder den ganzen Weg, ausgenommen die Fußwege, die Autofahrend zurücklegen, z.B. zum Autoparkplatz), 11 Prozent fahren mit dem Fahrrad.
Viele Menschen wollen gar nicht Auto fahren und es stört sie, dass sie es müssen. Eine riesige Mehrheit wünscht sich deutlich weniger Autoverkehr in Städten. Viele der Autofahrten ließen sich durch Radfahrten ersetzen (denn die meisten Wege ins kürzer als fünf Kilometer), wenn das Radfahren nicht von so vielen als gefährlich empfunden würde. Viele der Autofahrten ließen sich auch durch Fahrten mit den Öffis ersetzen, wenn sie nicht als zu teuer, umständlich oder unzuverlässig empfunden würden. Und viele Autofahrten müssten nicht stattfinden, wenn es Wohnortnähe (Stadtvierteln oder Dörfern) Geschäfte, Arztpraxen, Banken und Serviceeinrichtungen gäbe. Wir haben unsere Städte (Dörfer und Kleinstädte etc.) autogerecht eingerichtet und benachteiligen damit Menschen zu Fuß oder auf Fahrrädern. Wir setzen sie sogar der ständigen Gefahr aus, von einem Autofahrer verletzt oder getötet zu werden. Dabei fällt es uns ungeheuer schwer, zu erkennen, dass wir einer, wenn auch starken, Minderheit dienen. Denn die Mehrheit derer, die gerade unterwegs sind, sitzt gar nicht im Auto. Diese Mehrheiten, die zu Fuß gehen (ganze Wege, zur Bahn, zum geparkten Auto, auf Shoppingtour in der Stadt), sehen sich außerdem zugeparkten Gehwegen gegenüber, auf denen auch noch E-Scooter herumstehen, warten lange an Fußgängerampeln, stehen an Bordsteinkanten oder zwischen geparkten Autos und gucken, ob sie auf die andere Seite gehen können, werden zu ermüdenden Umwegen gezwungen, weil eine Baustelle ihren Weg versperrt oder eine große Kreuzung den Autoverkehr abwickelt, und oftmals auch noch von Radfahrenden bedrängt, die auf Fußgängerverkehrsflächen geleitet wurden. Die berühmte Grafik von Copenhagenize zeigt, wie im Lauf der Zeit und mit der politischen und wirtschaftlichen Unterstützung für das private Auto, die Wege für Menschen zu Fuß, in Bussen und auf Fahrrädern komplizierter, umwegiger und lückenhafter geworden sind, während sich der Autoverkehr die durchgängigen und direkten Wege erobert hat.
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A short history of Traffic Engeneering, Copenhagenize 2017 |
Es wäre an der Zeit, die StVO den Bedürfnissen und Rechten (z.B. auf Unversehrtheit) der Menschen anzupassen, die zu Fuß oder mit Fahrrädern unterwegs sind und nicht in Autos. Auch sie brauchen direkte Verbindungen, kurze Wege und kurze Wartezeiten an Verkehrsknotenpunkten.
Oder kurz als Wilhoit's Law.
AntwortenLöschenDu meinst dieses, zitiert aus Wikipedia: "Ein Zitat, das im Volksmund als „Wilhoits Gesetz“ bekannt ist, wird oft fälschlicherweise Francis M. Wilhoit zugeschrieben:
LöschenDer Konservatismus besteht aus genau einer These, nämlich: Es muss In-Gruppen geben, die das Gesetz schützt, aber nicht bindet, neben Out-Gruppen, die das Gesetz bindet, aber nicht schützt.
Tatsächlich handelte es sich jedoch um eine Blog-Antwort des 59-jährigen Komponisten Frank Wilhoit aus Ohio [ Wikidata ] aus dem Jahr 2018 , Jahre nach Francis Wilhoits Tod.
Autohasser’s Guide to Traffic Rules: Framing 101.
AntwortenLöschen70 Prozent der Autofahrenden missachten Geschwindigkeitsbegrenzungen (halten sich also nicht an die Verkehrsregeln),
Löschen43 Prozent parken im Haltreverbot,
36 Prozent halten nicht an Stoppschildern,
32 Prozent blinken nicht,
24 Prozent halten nicht an der Ampel, die gerade auf Rot gesprungen ist,
23 Prozent benutzen ein Handy beim Fahren.
(@Anonym von 9:34) Ein Ad Hominem und Strohmann in einem --- starker Beitrag
LöschenDie Zahlen sind aus Selbsteinschätzungen in einer Umfrage, oder? Dann wären sie im Sinne einer unteren Schranke zu lesen.
LöschenHallo Christine
AntwortenLöschenin Allem hast du 100% recht. Ich hatte neulich einen Polizisten zufällig an einer Baustelle an einem Kreisverkehr getroffen, die ich schon länger der Stadt Saarbrücken gegenüber bemängelt hatte, weil diese in keinster Weise der RSA entspricht: Zu schmale Fußwege, weil durch Absperrung verengt, keine Auframpungen, keine Querungshilfen, etc. Aber für den Fahrbahnverkehr alles schön breit und "weggeräumt“! Er hat sofort auf die Stadt verwiesen, er sei nicht zuständig und wenn die Stadt den Mangel über "Meldoo" als erledigt kennzeichnet, dann hat diese wohl Recht. Keine Einsicht, keine Kontrolle, ob des Zustandes, nichts, nur abwimmeln. Ich habe dann meinem Sohn erzählt, dass er gerade selbst erlebt hat, dass scheinbar die Rechte als Fußgänger/Radfahrer/Rollatorfahrer/Rollstuhlfahrer/Kinderwagen fahren/ Tretrollerfahrer, etc. nicht interessieren. Das "Kfz über Alles" Prinzip ist namentlich mit einem Herrn verbunden, dessen Titel Einzug in die Mutter der jetzigen StVO gehalten hat. Die 1. RStVO von 1934, deren Inhalte teilweise in der StVO der Bundesrepublik weitergeführt wurden und werden, hat in Ihrer Präambel ganz klar zu stehen "Die technische und wirtschaftliche Entwicklung des Kraftfahrzeugs hat eine Wandlung des Straßenverkehrs von Grund auf angebahnt. Der neue Schnellverkehr und Fernverkehr auf der Straße bedarf einer Regelung, die einfach, großzügig und einheitlich sein muss und alle Hemmungen durch die Zersplitterung des Rechts und durch kleinliche Reglementierung des Verkehrs forträumt. Die Förderung des Kraftfahrzeugs ist das vom Reichskanzler und Führer gewiesene Ziel, dem auch diese Ordnung dienen soll..." Dieser Geist, einst aus der Flasche gelassen, wir schwer einzufangen sein.
Grüße
Michael
Der Vorwurf an die Polizei scheint mir unangebracht: Baustellenführung und Gehwegbreite liegen im Zuständigkeitsbereich der Straßenverkehrsbehörden oder der Stadtplanung, nicht bei der Polizei. Angesichts knapper Ressourcen sollte man froh sein, wenn die Polizei überhaupt ihre Kernaufgaben – die Überwachung von Verkehrsregeln und die Sicherheit – erfüllen kann. Oder würden wir von der Feuerwehr erwarten, dass sie sich um den Rasen im Stadtpark kümmert? Angesichts der aktuellen Ausstattung ist ohnehin fraglich, ob die Polizei überhaupt in der Lage ist, ihre Kernaufgaben vollständig wahrzunehmen.
LöschenOhne Spaß, habt ihr auch das Gefühl, dass hier ein Troll-Bot im F.U.D.-Modus (Fear, Uncertainty & Doubt) unterwegs ist? Egal was geschrieben wird, das Teil sagt "Nö, oh guck mal da".
Löschen-Tim
Siehe auch die Radwegbenutzungspflicht von 1934 in https://de.wikipedia.org/wiki/Radverkehrsanlage
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