Der Helm verhindert keine Unfälle und ist bei Zusammenstößen mit Autos meist nicht entscheidend. Aber er kann eben auch schützen.
In den Niederlanden wird derzeit wohl heftig diskutiert, ob es für Fahrer:innen von E-Fat-Bikes eine Helmpflicht geben soll, wenn sie unter 18 Jahre alt sind. Oder für alle Pedelecfahrende. Oder eben auch nicht. Wobei der stets benutzte Begriff "E-Bike", der eigentlich ein mit Gashebel versehenes Elektrorad meint, die Frage aufwirft, um welche Räder es genau geht. Es scheint sich in den Niederlanden, wo kaum jemand Helm trägt, die Zahl der Jugendlichen mit Kopfverletzungen verfünfacht zu haben. Leider gibt es kaum Daten darüber, in wieviel Prozent der Fälle von Stürzen und Crashs von Radfahrenden es zu einer Kopfverletzung kommt und inwiefern ein Helm dabei eine Rolle spielt. Es gibt aber reichlich Schätzungen.
Obgleich im Jahr 2022 in Deutschland über 60 Prozent der Pedelec-Fahrenden und im Durchschnitt über 40 Prozent der Radfahrenden einen Helm trugen und dies im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg von 6 Prozentpunkten war, stieg auch die Zahl der getöteten Radfahrenden im selben Zeitraum, rechnet Velototal vor. Der in dem Bericht zitierte Neurologe schätzt, dass in 60 bis 80 Prozent Kopfverletzungen der Grund sind. Man kann daraus aber nicht schließen, dass all diese Todesopfer keinen Helm getragen haben. Fakt ist auch, dass der Autoverkehr und schlechte Infrastruktur (Hindernisse auf Radwegen) die eigentlich Ursache für Stürze und Crashs sind. (Zahlen dazu: hier.)
Die Uni Münster hat knapp 600 tödliche Unfälle genauer untersucht. Allerdings stammen die Daten aus dem Jahr 2014. Demnach trugen in Münster 16 Prozent der verunfallten Radfahrenden einen Helm, in München waren es 21 Prozent. In dem Bericht, den "Ich trag Helm" veröffentlichte, heißt es dann: "Radfahrende mit Helm erlitten höchstens leichte Kopfverletzungen, schwere Kopfverletzungen waren nur bei Radfahrenden ohne Helm zu beobachten." In der Hälfte der Fälle sei ein Schädel-Hirn-Trauma todesursächlich gewesen, in der anderen Hälfte der Fälle habe es vielleicht eine Kopfverletzung gegeben, aber sie war nicht tödlich. Eine Studie des baden-württembergischen Verkehrsministeriums kam 2017 auf 40 Prozent, inklusive Verletzungen im Gesicht, das der Fahrradhelm kaum schützt. Und wie ein Notfallretter mal überschlug, machen alle anderen Verletzungen den Großteil der Verletzungen nach Crashs und Stürzen aus. Helme schützen vor Kopfverletzungen nur bei Zusammenstößen von Autofahrenden mit Radfahrenden, wenn der Geschwindigkeitsunterschied klein ist. Prallt ein Auto mit 70 km/h auf einen Radfahrer, stirbt er an vielfältigen Verletzungen. Und Helme schützen auch nicht gegen das Tonnengewicht von Autos. Biegt ein Lkw-Fahrer über einen Radweg ab und überrollt dabei eine Radfahrerin, spielt der Helm überhaupt meine Rolle mehr.
Die taz berichtete 2011 über eine Untersuchung von Neurologen, die keinen Beweis erbracht habe, dass ein Helm vor schweren Kopfverletzungen schützt. Zitat: "Auch die Untersuchungsergebnisse von Frank Thomas Möllmann, heute Neurochirurg in Osnabrück, und seinen Kollegen vom Universitätsklinikum Münster liefern keinen Beweis dafür, dass ein Helm schwerere Kopfverletzungen zuverlässig verhindert: 2004 erforschten sie Ursachen für Fahrradunfälle und typische Verletzungen. Sie konzentrierten sich dabei insbesondere auf Schädel-Hirn-Traumata und untersuchten mehr als 300 Patienten, die bei Fahrradunfällen Hirnverletzungen erlitten hatten. 90 Prozent der Unfallopfer hatten keinen Fahrradhelm getragen -, "aber die Schwere der Verletzungen unterschied sich zwischen den beiden Gruppen nicht signifikant", schreibt Möllmann in seinem Fazit." (Quelle: taz)
Die immer wieder aufflackernde Debatte über eine Helmpflicht für Radfahrende, führt stets zur Debatte über die Qualität der Verkehrsregeln und der Infrastruktur für Radfahrende. Die Infrastruktur setzt in den in den Niederlanden konsequent auf Trennung der Verkehrsarten und auf Radwege. Dennoch steigen auch dort die Zahlen von tödlichen Radfällen an, zum einen wohl, weil mehr Alte Rad fahren, seitdem es Pedelecs gibt. Zum andern vermutlich, weil in den Niederlanden die Radinfrastruktur für den enormen Radverkehr vielerorts inzwischen auch nicht mehr ausreichend dimensioniert sein dürfte.
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| Heilbronner Str., Radweg mit Abbiegeunfallgefahr |
Gerne wird der argumentative Widerstand gegen eine Helmpflicht mit den Diskussion für und wider den Sicherheitsgurt oder Motorradhelm verglichen. Man müsse die uneinsichtigen Leute zur eigenen Sicherheit zwingen. Dabei vergisst man, dass im Auto und auf Motorrädern aufgrund der Geschwindigkeiten ganz andere Kräfte herrschen und auf den Körper einwirken als beim Radfahren. Im Auto ging ohne Sicherheitsgurt eine Vollbremsung oder ein Crash bei Tempo 50 bereits tödlich aus. Die Einschränkung der grundgesetzlich geschützten Handlungsfreiheit durch eine Gurtpflicht war also durchaus verhältnismäßig. Es ging nicht darum, in Einzelfällen für Schutz zu sorgen, sondern darum, dies in Tausenden von Fällen zu tun. 1970 starben in Deutschland rund 21.000 Menschen bei Verkehrsunfällen. Nach Einführung der Gurtpflicht 1976 und von Bußgeldern bei unangeschnalltem Fahren 1984 ging diese Zahl signifikant (bis heute um 87 Prozent) zurück.
Aber selbst heute können Autofahrende bei Alleinunfällen und Crashs immer noch schwerste oder tödliche Kopfverletzungen erleiden. Heinrich Strößenreuter schreibt: "Eine Helmpflicht für Autofahrer und Fußgänger könnte mehr Leben schützen: Auf jeden getöteten Radfahrer kommen 1,5 Fußgänger und 4,5 Autofahrer mit tödlichen Kopfverletzungen. (...) Selbst wenn man die zurückgelegten Kilometer betrachtet, ist es 2,6 mal wahrscheinlicher, je Autokilometer an einer Kopfverletzung zu sterben als je Fahrrad-Kilometer." Ich kenne in meiner direkten Nachbarschaft sogar einen solchen Fall. Dennoch führen wir die Helmdiskussion nur bezogen auf Radfahrende.
Eine Radhelmfplicht ist verfassungswidrig. Man kann nicht die Freiheitsrechte (Handlungsfreiheit) nur bei einer Verkehrsart einzuschränken, wenn das Risiko bei anderen genauso groß oder größer ist. Es stellt sich also die Frage, ob es verfassungskonform (Gleichbehaldungsgrundsatz) ist, nur Radfahrenden eine Helmpflicht aufzuerlegen. Das Gleiche gilt bei einer Helmpflicht für unter 18-Jährige. Es gilt immer dann, wenn man eine Selbstschutzpflicht nur für einen Teil der Radfahrenden (Autofahrenden oder Fußgänger:innen etc.) ausspricht und vor allem, wenn die Verältnismäßigkeit einer Einschränkung der Handlungsfreiheit nicht nachgewiesen werden kann. Laut einem Gutachten einer von Thüringen bestellten Expertekommission (S. 21 ff) muss, bevor man persönliche Rechte einschränkt, nach "milderen Mitteln" gesucht werden, mit denen das Ziel ebenfalls erreicht werden kann, und benennt als milderes Mittel die flächendeckende Verbesserung der Infrastruktur für Radfahrende oder eine umfassende Förderung des freiwilligen Helmtragens. Das aber wäre teuer, weshalb man die Verantwortung an die Radfahrenden zurückgibt.
Der Grund, warum sich die öffentliche Helm-Diskussion nur auf Radfahrende fokussiert, scheint mir darin zu liegen, dass es Politik, Medien und Gesellschaft viele gibt, denen daran liegt, das Radfahren als problematisch und gefährlich hinzustellen, um nicht darüber diskutieren zu müssen, wie problematisch das Autofahren ist und wie gefährlich unser Autoverkehr nicht nur für die Autofahrenden selbst, sondern für alle Verkehrsteilnehmenden ist, die nicht im Auto sitzen. Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, dass wir Radfahrende allen anderen, vor allem Autofahrenden, eine Freiheit, Autonomie und Leichtigkeit der Mobilität vor Augen führen, die als Bedrohung des Konzepts der Abhängigkeit vom Auto gesehen wird, und die Manche gerne schmälern möchten durch Auflagen und Kleidungsvorschriften (Helm, Warnwesten etc.). Radfahren soll nicht leicht erscheinen, sondern problematisch und umständlich.
Rund 24 Prozent der Radelnden und 33 Prozent der Frauen lehnen einen Helm ab, weil er die Frisur zerstört oder im weitesten Sinn nicht mit der Frisur vereinbar ist. Ich trage einen Helm, habe dafür aber keine Frisur oder eben nur die, die unter einen Helm passt. Helme werden außerdem für Männer gebaut, sie betonen Sportlichkeit oder sind mit technischen Finessen ausgestattet. Sie sind unglaublich hässlich und oftmals wenig praktisch im Alltag des Stadtradelns. Helme werden derzeit mit Elektronik (Bremslicht, Blinker etc.) aufgerüstet und sind für optimale Lüftung bei Rennradtouren im Sommer konstruiert. Sie schützen aber weder vor Regen noch vor Sonne.Wobei das tödliche Risiko in vielen anderen alltäglichen Lebensbereichen durchaus höher ist als beim Radfahren, etwa das durch Stürze im Haushalt. Trotzdem redet man nicht ständig von besonderer Schutzkleidung, beispielsweise Helme fürs Fensterputzen oder Treppensteigen. Zum Vergleich: Im Straßenverkehr sterben knapp 3.000 Menschen jährlich mit sinkender Tendenz, davon ungefähr 450 Radfahrer:innen und rund 400 Fußgänger:innen. Andere Dinge, die wir tun, sind statistisch deutlich gefährlicher als Radfahren oder zu Fuß gehen. Bei Hausarbeiten und Stürzen im Haushalt sterben jährlich in Deutschland über 12.000 Menschen. Etwa 300 Menschen ertrinken (Flutopfer nicht mitgerechnet). Und jährlich gibt es etwa knapp 10.000 Suizide. Die Mordrate schwankt in den letzten 20 Jahren zwischen 450 und 245, nicht mitgezählt Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge, das sind dann schon zwischen 1.700 und 2.000 pro Jahr. Die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle liegt in den letzten Jahren etwa auf Höhe der tödlichen Fahrradunfälle. Es gibt also keinen Grund, das Radfahren für besonders gefährlich zu halten und nur bei ihm über einen besonderen Eigenschutz zu debattieren. Beim Skifahren, wo es auch um Geschwindigkeiten geht, tut man das auch nicht. Es gibt in Deutschland keine Helmpflicht für Skifahrer:innen, nicht einmal für Kinder.




Noch kein Unfallforscher konnte feststellen, das mit steigender Helmtragequote der Anteil der Kopfverletzungen an allen Verletzungen bei Radfahrern zurückgeht.
AntwortenLöschenUnd zum Risiko: Man sollte auch nicht die ca. 500 toten Motorradfahrer jährlich vergessen. Obwohl die Fahrleistung von Motorradfahrern nur ca. ein Drittel der von Radfahrern beträgt.
Vergesst nicht, dass eine Helmpflicht durch die Hintertür durchaus kommen kann, wenn die Zahl derjenigen, die ihn "freiwillig" tragen, einen gewissen Prozentsatz übersteigt.
AntwortenLöschenDann wird die Helmpflicht durch irgendein Gericht (auf die Klage eines Versicherers, der nicht zahlen will, nachdem sein Kunde einen Radfahrer tot- oder krankenhausreif gefahren hat) faktisch eingeführt, indem man dem Radfahrer aufgrund des Nichttragens eines Helms eine Mitschuld gibt.
Diese Hintertür hat das BVG meiner Erinnerung nach genauso offen gelassen.
Sorry, war der BGH.
LöschenSorry fürs Klugscheißern, falls du das Bundesverfassungsgericht meintest, das wär abgekürzt BVerfG, BVG ist Bundesverwaltungsgericht :D
LöschenDiese elende Helmpflichtdiskussion. Fahrradfahren ist so einfach, aufsteigen losfahren. Für nicht so gut betuchte auch kein Problem. Vielleicht kriegt man ein Fahrrad geschenkt und kann dann ganz einfach gleich losfahren. Mit Helmpflicht? Wo kommt der Helm her, wenn am Ende des Geldes noch Monat übrig ist? Selbst billige Helme kosten immer noch Geld.
AntwortenLöschenIch fahre meine Alltagswege mit dem Rad. Ich will nicht noch einen Helm mitnehmen. Wo kommt der hin, wenn ich in den Laden gehe? Nein, aufbehalten ist keine Option, never.
Also ehrlich, ich soll mich schützen, weil andere nicht in der Lage sind, sich auf das zu konzentrieren, mit dem sie gerade beschäftigt sind? Beim Autofahren wird alles möglich gemacht, nur nciht auf Autofahren konzentriert. Einfachste Regeln nicht beachtet. Abstände? Geschwindigkeit? Ampeln? Einfach nur konzentriert schauen?
Und dann, macht erstmal die Infrastruktur sicher, damit kein Radfahrer mehr vom Rechtsabbieger umgenietet wird. Diszipliniert erstmal die ganzen "Regeln-gelten-nicht-für-mich"-Typen. Bremst die Raser und repariert die Strassen.
Wenn ich Radfahren als Sport betreibe, lasse ich mir Helm gefallen, aber nicht im Alltag. Autofahrer tragen auch nur Helm, wenn Sie das Autofahren als Sport betreiben. Beim Sport ist das Unfallpotential auch deutlich höher, aber Alltag ist Alltag. Und hier gibt es Regeln, die gefälligst alle einzuhalten haben und wer das nicht will, darf nicht mehr im öffentlichen Strassenverkehr fahren und zum Rasen soll er auf eine geschlossene Rennstrecke gehen.
Karin
Ich lasse meinen Helm am Fahrrad, entweder in der Seitentasche oder am Lenker, zur Not schließe ich ihn an. Ich habe noch nie einen Helm irgendwo mit reingenommen. Das ist völlig unnötig. Aber ich finde, niemand muss einen Helm aufsetzen, damit wir uns nicht missverstehen.
LöschenBeim Bundesverfassungsgericht wäre ich mir nicht so sicher - sie die unmögliche Entscheidung zur Gurtplicht. Eine Helmplicht für Radfahrer ist da ein Klacks dagen.
AntwortenLöschenGrüße
Mercedes Testa Rossa
Du hast wieder mal der Artikel nicht gelesen. Schade.
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