3. April 2020

Warum wir lieber im Stau stehen als Rad fahren

Rund 120 Stunden stehen Autofahrende durchschnittlich im Jahr bei uns im Stau. Radfahren wäre die Lösung, aber so einfach steigt es ich nicht um aufs Fahrrad. 

Fünf Tage im Jahr verbringen wir also  im Stau. Wer an 180 Tagen im Jahr morgens und abends zur Hauptverkehrszeit zur Arbeit und nach Hause fährt, braucht für den Weg fünfzig Prozent mehr Zei als etwa zur Mittagszeit.

Wenn man davon ausgeht, dass jemand bei staufreier Straße 30 Minuten für den Weg braucht, braucht er im abendlichen und morgendlichen Berufsverkehr dafür grob gerechnet 45 Minuten. Auf 180 Tage hochgerechnet sind das 90 Stunden Stauzeit, also fast vier volle Tage, die Nacht mit eingerechnet (oder 11 Arbeitstage), die er oder sie in einem Auto sitzt, das nur sehr langsam vorankommt. Mit vier Tagen und Nächten im Jahr kann man schon recht viel anfangen.

Schnelligkeit und Zeitgewinn ist alledings kein Wert an sich. Auch wenn wir immer so tun, als hätten wir es eilig und müssten für irgendetwas Zeit einsparen. 
Gerade für Autofahrende ist der Zeitfaktor offensichtlich unerheblich. Das klingt zwar paradox, versuchen doch die meisten Autofahrenden, so schnell wie erlaubt (gern auch schneller) zu fahren, wenn mit dem Fuß das Gaspedal runterdrücken, und rechnen wir uns doch immer vor, das Autos sei unser schnellstes Verkehrsmittel. Aber Untersuchungen zeigen, dass vielen Menschen die Pausen zwischen Arbeit und Zushause im Auto sehr wichtig und Staus deshalb ziemlich egal sind. Eine Reise wird dann als ordentliches Unterwegssein empfunden, wenn sie etwa 45 Minuten dauert. Wäre den Leuten das zu lang, würden sie andere Verkehrsmittel wählen. Wer nicht im Stau stehen (aber unbedingt Auto fahren möchte) fährt außerdem oft sehr früh ins Büro, vor der Rushhour sozusagen). Das Fahrrad erscheint diesen Leuten keine Alternative.

Sie fordern gern mehr und breitere Staßen und Grüne Wellen, Autobahnen und Umgeheungsstaßen.
Aber - das wissen wir schon lange - der Bau von neuen oder breiteren Straßen ist kein Gewinn. Eine neue Straße füllt sich rasch, und dann steht man dort auch wieder im Stau. Straßen erzeugen Autoverkehr. Jede Umgehungsstraße führt dazu, dass noch mehr Menschen das Auto nehmen, die einen nutzen die Umgehungsstraße, die anderen fahren durch den Ortskern, der ja jetzt leerer seinn müste, was er aber bald nicht mehr ist (können wir gut beim Fellbacher Tunnel und auf der Waiblinger Straße in Cannstatt beobachten). Aber selbst dann, wenn das Verkehrsaufkommen gleich bleibt, kann eine neue Straße dazu führen, dass sich für alle Autofahrenden die Fahrdauer erhöht und die Situation verschlechtert (Braess-Paradoxon). Straßenbau hilft überhaupt nicht, um Stau zu vermeiden. Dagegen kann die Sperrung einer Straße Stau und Verkehrschaos verringern. Wir dürfen nämlich davon ausgehen, dass wir etliche Straßen in unserem Verkehrsnetz haben, die dem Braess-Paradoxon unterliegen. In Stuttgart war das die Königstraße, die heute Fußgängerzone ist.

Stau entsteht durch Autofahrer, die den schnellsten Weg suchen.
Wer im Stau steht, ist der Stau und ein Grund dafür, dass es ihn gibt. Grund für Steh- und Wartezeiten in der Stadt sind nicht die Ampeln (die werden zur Hauptverkehrszeit von der Verkehrsleitzentrale angepasst), sondern jeder Autofahrer, der selbst am schnellsten durchkommen möchte. Das Schleichwegfahren erscheint dann als Verkürzung, ist es aber nicht. Wer den Stau auf der Hauptstätter Straße zum Heslacher Tunnel über die Tübinger Straße umfährt braucht samt Ampelstopp an der Kolbstraße länger als die Autos auf der Hauptstätter Straße vorrücken, glaubt aber, er sei schneller gewesen. Der Stau auf der Hauptsätter Straße ist dadurch nicht kürzer geworden, aber die Schleichwegahrer haben in der Kolbstraße noch einen Stau erzeugt und müssen zwei bis drei Ampelphasen warten (3 bis 6 Minuten), bis sie rauskommen.

Verzögerungen verursacht übrigens auch jeder Autofahrer, der in eine Krezung eingefahren ist, auf der schon andere stehen und damit den Querverkehr blockiert. Oder jede, die für sich persönlich entscheidet, dass sie mit dem Auto in zweiter Reihe anhalten muss, um ein Paket abzuholen. Grund für einen Staus sind zu viele Autos. Und man kann keine Stadt jemals für die Stauzeiten umbauen, denn letzlich müsste man dann die Häuser abreißen, die neben den Straßen stehen, um sie breiter zu machen. Schon jetzt zeigen sich unsere Stuttgarter Straßen als gähnend leere weite Flächen, sobald nicht Hauptverkehrszeit ist.

Viele der Autofahrenden könnten mit dem Fahrrad fahren.
Nicht alle, darum geht es nicht, aber viele, deren Weg zur Arbeit nur fünf bis sechs Kilometer beträgt. Sie nützen dann immer noch ein Individual-Verkehrsmittel, nur eben eines, das weniger Platz einnimt, überall durchkommt und mit dem man sogar schneller und immer pünktlich ankommt. Die meisten fahren aber nicht mit dem Fahrrad, obgleich sie es könnten. Die Forderung ist wohlfeil. Aber warum kommt sie nicht an?

Gewohnheits-Autofahrende müssen eine hohe Hürde überwinden,  um das Fahrrad zu nehmen.
Die meisten kennen das Radfahren von Freizeitaktivitäten. Offenbar fühlt man sich da gelassener und eher bereit, Wegsuche und Komplikationen in Kauf zu nehmen. Der Weg zur Arbeit darf aber keinerlei Hindernisse vorhalten, den will man so zügig wie möglich zurücklegen. Dazu muss man ihn jedoch kennen.  Radstrecken aber sind vom Auto aus meist nicht sichtbar. Man kennt sie nicht. Den Weg zur Arbeit müsste man also erst einmal an einem Sonntag abgefahren sein und ausprobiert haben. Aber will man am Sonntag zum Arbeitsplatz radeln? Und so verschiebt man die Wegsuche immer wieder. Und dann trifft man am Morgen eben auch nicht spontan die Entscheidung: Heute nehme ich mal das Fahrrad. Während die Autofahrt Routine ist, sind die ersten Radfahrten zur Arbeit ein neues Abenteuer, für das man nicht in Stimmung ist.

Selbst versierte Freizeit- und Sport-Radfahrer/innen müssen sich überwinden, zur Arbeit zu radeln, wie Andrea hier erzählt (wobei ihr Weg 20 km beträgt). Radfahren zur Arbeit ist nämlich ein grundlegender Wechsel im Alltagsmodus, eine ziemlich tiefgreifende Verändung des Lebens: Aus dem warmen Kasten mit Radio hinaus ins Wetter und unter Leute. Man braucht auf einmal ganz andere Kleidung. Man wird anderen Reizen und Gefühlen ausgesetzt, wenn man radelt. Man ist plötzlich mitten in der Welt, nicht mehr von ihr abgekapselt. Wer die Kapsel Auto als Pausenraum zwischen sich und er Arbeit schätzen gelernt hat, mag sich nicht vorstellen, dass die Radfahrt ein Kurzurlaub zwischen Arbeit und Zuhause ist. Wer sich nach der Arbeit fallen lassen möchte (in den Fahrersitz), kann sich nicht vorstellen, dass das aktive Radfahren viel entspannender und erholhsamer ist als das Autofahren. Er/sie sieht nur die Anstrengung (und redet sich mit den Gefahren des Radfahrens raus). Es ist eine unsichtbare aber sehr hohe Hürde, die zwischen gewohnheitsmäßigem Autofahren und dem Abenteuer Radfahren steht. Wer sie nicht überwunden hat, kann nicht beurteilen, welche Vorteile das Radfahren auf diesen typischen Berufs-Pendlerstrecken von 4 bis 10 km hat.

Ich erlebe es oft, dass ich notorischen Autofahrenden nicht vermitteln kann, dass meine kleinen Strecken durch die wirklich nicht große Stadt Stuttgart viel netter mit dem Fahrrad sind als mit dem Auto, dass Regen nicht schlimm ist und dass man bei unseren 6-Grad-Wintern auch nicht erfriert. Mnache bedauern mich, wenn sie zu ihren Autos gehen und ich mir den Helm aufsetze. Sie können sich nicht vorstellen, dass ich schneller dabeim sein werde als sie. Oder dass ich noch schnell Nahrung für drei Tage einkaufe (die meisten Autofahrende denken in Großeinkäufen und Sprudelkisten).

Ich glaube, dass die Aussicht auf die Freiheit vom Auto eher erscheckt als verlockt.
Wer neu aufs Fahrrad steigt, begibt sich nämlich ins Unbekannte. Man kennt die Regeln da draußen nicht so genau (vielleicht ist es gefährlich), man weiß nicht, wie es sich anfühlt (Regen ist meistens nass), man weiß nicht, zu welcher Personengruppe man dann gehört (Radler hat man ja immer gehasst), man befürchtet, es werde sich zu viel ändern, was zumindest scheinbar gut funktkoniert (wie bringe ich jetzt die Kinder in die Kita, wie geht Einkaufen, kann ich meine Alltagsroutine genauso schnell abwickeln?). Den Alltag neu denken, ist im Stress zwischen Arbeit, Familie und Freizeit nicht jedermanns Sache. Wenn man Fahrrad fährt, muss man anders planen. Man muss zwar nicht an den Parkplatz denken, aber dafür an den Regenkittel und Regenhosen oder an eine Fahrradtasche für den Einkauf. Und nicht jeder Weg abseits der Routinewege ist mit dem Fahrradd so leicht zu bewältigen wie in einem Auto mit Navi und Wegweisung an den Hauptstraßen. Allerdings lernt man schnell, dass man sehr viele Abstecher vom Routineweg machen kann, weil man nie Parkplatz suchen muss, dass man überall hin kommt, auch wenn der gesamte Autoverkehr steht. Dass man eben nie im Stau gefangen ist.

Leider ist unsere Radinfrastruktur noch sehr mangelhaft und macht Ungeübten keinen Mut, das Fahrrad zu nehmen. 







2 Kommentare:

  1. Ja, der Mut das Fahrrad zu nehmen. Bei uns in der Kleinstadt und draußen auf dem Land ist noch viel mehr Mut erforderlich. Sagte mit vor wenigen Wochen ein guter Bekannter, er habe sich jetzt einen neuen SUV gekauft. Auf meine Frage warum er nicht zu arbeit laufe oder radfahre (er hat weniger als einen Kilometer Strecke) meinte er, dass er doch ein Auto besitze. Und warum es ein dicker Diesel sein müsse? Weil er doch ein, zweimal im Jahr in Urlaub führe und das elektrisch oder mit der Bahn gar nicht gehe ... Oder sind es vielleicht doch die Kollegen, die über Fußgänger und Radfahrer spotten?

    Was lernen wir daraus: Autos werden genutzt, weil sie da sind, nicht weil der Gebrauch sinnvoll ist. Und Autos werden gekauft, weil man vielleicht mal irgend etwas damit machen möchte, und wenn es nur ein- oder zweimal im Jahr ist. Außerdem vermitteln sie Ansehen und Status.

    Nach Alternativen wird erst gar nicht gesucht, denn die sind per se schon schlecht.

    Ich für mich empfinde jede Minute im Stau als verlorene Lebenszeit. Die bringt mir keiner zurück. Und deshalb versuche ich jede einzelne Fahrt, die mich in einen Stau bringen könnte zu vermeiden. Da fahre ich lieber auf der gleichen Strecke mit der Bahn, habe rechnerisch vielleicht eine halbe Stunde länger, aber die Zeit für mich gewonnen. Das ist schon ganz gut.

    Aber jede Minute auf dem Rad lebe ich deutlich intensiver! Das ist meine Motivation - intensiver leben.

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  2. Bin gerade die neue Strecke hinter der MercedesArena im NeckarPark gefahren. Die ganze Strecke ist gepflastert- eine Holperpiste. Für Rennräder unbrauchbar. Soviel Böswilligkeit seitens OB Kuhns Tiefbauamt ist unerträglich und löst bei mir nur noch tiefstempfundene Verachtung aus. Kein Wunder, die Leute fahren mit dem Auto...LG Klaus

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