22. Oktober 2022

Sprechen wir über die wahren Gewaltverhältnisse im Straßenverkehr

Taxi steht auf dem Radweg, Taxifahrer droht Radler
Noch mal Sprache: Wir brauchen eine andere, um die Verhältnisse im Straßenverkehr so zu beschreiben, dass die Mobilitätswende in Gang kommt und gelingt. 

Es geht um unsere Worte "Unfall", "autofrei" und "Parkplatz". Wie ich schon mal ausführte, ist das Wort "Unfall" irreführend. Dennoch habe ich es nach meinem eigenen Artikel 2018 darüber selber immer wieder gebraucht. 

2021 hat Dirk von Schneidemesser in einem Vortrag und Artikel für das Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) erneut und weitreichender über unsere Sprache nachgedacht. Er wiederum knüpft an eine NDR-Sendung über die Formulierungen der Polizei an. In den USA und in Großbritannien wird an Leitlinien für die Berichterstattung über Verekehrskollisionen gearbeitet. Sie empfehlen statt "accident" das Wort "crash" zu verwenden. Unser "Unfall" bedeutet eigentlich Missgeschick, Unglück, und "accident" ist ein Ereignis, das zufällig geschieht. Beide Worte machen aus einem "Autofahrer fuhr kleines Kind tot" (Kind bei Unfall getötet) oder "Lkw-Fahrer tötete Radlerin beim Abbiegen" (Tödlicher Unfall einer Radfahrerin) ein Ereignis, an dem kein Autofahrer oder Lkw-Fahrer beteiligt war, schon gar nicht schuldhaft. Aber auch für den "Unfall"-Fahrer, also den Verursacher bedeutet das Wort Entlastung, denn es klingt so, als sei der Tötungsakt über den Fahrer oder die Fahrerin des Autos ohne sein/ ihr Zutun hereingebrochen, er/sie war eigentlich gar nicht beteiligt. Folgerichtig ist für die Medien und die Leser:innen ganz leicht, die Schuld oder Teilschuld sofort beim Opfer zu suchen (zu schnell, nicht aufgepasst, trug keinen Helm). Und das Mitleid mit dem Autofahrer ist groß. 

Die wahren Gewaltverhältnisse im Straßenverkehr werden verschleiert. Mit dem Wort "Unfall" wird ein Narrativ in Gang gehalten, das uns daran hindert daran zu denken, wir gefährlich die Fahrlässigkeit und Gedankenlosigkeit von Autofahrenden für alle anderen ist, die nicht Auto fahren. Und es erleichtert es allen Richterinnen und Richtern, das Töten von anderen im Straßenverkehr mit milden Strafen zu belegen, schließlich denken sie insgeheim immer auch daran, wie schnell es auch über sie hereinbrachen kann, dass sie einen Radfahrer oder ein Kind nicht beachten und totfahren oder schwer verletzen. (Warum so viele Autofahrende Menschen im Straßenverkehr nicht beachten, beschreibe ich hier in diesem Artikel.) 

Besonders zynisch waren in jüngster Zeit zwei Artikel. Der eine der Presse Augsburg lautet: "Lkw-Fahrer übersieht Radfahrer - 71-Jähriger stirbt bei tragischem Unfall" Tasächlich wechselte der Lkw-Fahrer über eine sogenannte Fahrradweiche und fuhr dabei den Mann tot. Das Wort "tragisch" beschreibt ein unvermeidbares schicksalhaftes Geschehen mit bösem Ausgang für das man niemandem die Schuld gegeben kann, während tatsächlich der Lkw-Fahrer den Zusammenstoß hätte vermeiden können, wenn er sich bewusst gewesen wäre, dass er gerade zwei Radfahrer überholt hatte und in den Rückspiegel geschaut hätte, wo die jetzt sind, bevor er über einen roten Radstreifen zog Der andere erschien in der Stuttgarter Zeitung. Ein Lkw-Fahrer rangierte und fuhr dabei ein vier Jahre altes Mädchen um, das auf einem Fahrrad unterwegs war. Die Zeitung titelt "Kind bei Unfall mit Laster schwer verletzt" und schreibt: "Ein vierjähriges Mädchen (ist) schwer verletzt worden". so als sei daran niemand anders beteiligt gewesen. Dass der Laster-Fahrer hier - wie so oft - nicht benannt wird (es heißt nur Auto oder Laster), verstärkt den Eindruck, dass in der großen Maschine niemand sitzt, der für das Geschehen haftbar gemacht werden könnte, und wirft die Schuld aufs Opfer zurück, den einzig greifbaren Menschen in dieser Szene (das Kind muss ja einen Fehler gemacht haben, wenn es unter den Laster gerät). Danach heißt es ebenfalls klassisch: "Ein Lastwagenfahrer hatte das Kind beim Rangieren übersehen". Das "Übersehen" kommt noch einmal vor, und statt zu benennen, dass der Lkw-Fahrer das Kind umgefahren und zu Fall gebracht hat, weil er sich nicht vergewisserte, ob Menschen unterwegs waren, heißt es da: "Es kam zu einer Berührung zwischen dem Laster und der Radfahrerin, woraufhin diese stürzte und sich schwere Verletzungen zuzog." Erstens ist es so formuliert, als sei es nicht der Laster gewesen, der dem Kind Verletzungen zufügte, sondern als hätte es sie sich irgendwie zugezogen, und zweitens: Eine bloße Berührung kann das nicht gewesen wein, es muss schon ein ordentlicher Schlag gewesen sein, sonst verletzen sich Kinder nicht schwer. Man beachte und bestaune, mit welcher sprachlicher Anstrengung und um-die-Ecke-Formulierungen die Presse hier alles tut, um nur ja nicht aussprechen zu müssen, dass ein Lkw-Fahrer einen Mann totgefahren und ein anderer ein Kind schwer verletzt hat, weil er nicht aufpasste und nicht guckte. 

Autounfälle werden übrigens ziemlich oft so beschrieben, als hätte niemand hinterm Lenker gesessen, sondern das Auto irgendwas gemacht, was anderen Verletzungen zufügte, auch den Insassen. In diesem Artikel schreibt die Stuttgarter Zeitung: "Ein BMW kommt ... von der Straße ab, überschlägt sich mehrfach und landet im Wald. Die beiden Insassen werden nur leicht verletzt." (Hier noch ein Beispiel.) Und hier hat das Auto völlig eigenmächtig gehandelt: "Das Auto einer 19-Jährigen ... ist  ... von der Straße abgekommen und erst auf dem Feld neben der Straße zum Stehen gekommen." Auch Crashs zwischen Autos werden von der Presse oft so dargestellt, dass unter keinen Umständen ein Fehlverhalten des unfallverursachenden Fahrers benannt wird, als Beispiel diene dieser Artikel:  Ein Ausweichmanöver erscheint als verhängnisvolle Ursache, dabei ist der Unfallfahrer um ein auf seiner Seite am Straßenrand stehenden Pannenauto herumgefahren, offenbar, ohne anzuhalten und den Gegenverkehr abzuwarten, vermutlich in viel zu hohem Tempo. Gegenbeispiel ist dieser Artikel in der StZ, hier sitzt im Auto ein Fahrer.  

Die Sprache, die wir für den Straßenverkehr (Autos, Fahrräder, Fußgänger:innen) verwenden, hat Einfluss darauf, welches Urteil wir über die Verantwortung von Menschen treffen und welche Verkehrspolitik wir machen. 
In Kopenhagen spielte Sprache beim Umbau der Stadt in eine Fahrradstadt eine Rolle. In den 70er und 80er Jahren begegnete man in den Pressediskutisson Forderungen nach einer sicheren Radinfrastruktur auch und wie bei uns mit Beschuldigungen der Radfahrenden (Die halten sich ja an keine Regeln). IASS-Wissenschaftlerin Kallenbach: „Ein Verschieben der Debatte von der gebauten Infrastruktur auf individuelles Verhalten ist ein Problem, weil es die Debatte entpolitisiert. Es scheint, als ginge es darum, dass sich die Verkehrsteilnehmer und -teilnehmerinnen nur ordentlich verhalten müssten. Das lenkt von Mängeln an der Infrastruktur ab, die oft ein Fehlverhalten begünstigen oder sogar erforderlich machen, wenn beispielsweise Radfahrende auf dem Gehweg fahren, weil sie sich auf einer engen Straße mit viel Verkehr zu unsicher fühlen."
Bussspur, Autospur, Autolagerspur, aber nichts für Radfahrende

Wenn man aber nun ein Fehlverhalten nicht mehr einzelnen Personen, sondern einer Gruppe als feste Eigenschaft zuschreibt, dann sieht eine Lösung anders aus: "Wenn die Radfahrenden ‚immer‘ die Zufußgehenden gefährden, dann brauchen sie offensichtlich einen eigenen Radweg. Wenn die Autofahrenden gar nicht anders können, als die Radfahrenden zu bedrängen, dann müssen sie baulich von den Radfahrenden getrennt werden.“ In Kopenhagen half es offensichtlich auch, die Verkehrsteilnehmer:innen in Starke und Schwache einzuteilen, was bei uns überhaupt nicht hilft. Wir benutzen diese Begriffe schon lange und bauen dennoch keine Radinfrastruktur, die uns schützt: Die Elfjährige, die auf einer Fahrradweiche in Mittellage zwischen Lkw und Pkw, radeln muss, ist ultraschwach, sobald ein Autofahrer einen Fehler macht. Das ist uns aber egal. Wir mögen halt Schwache nicht sog gern, wir sind lieber aufseiten der Starken. 

In Kopenhagen vermied man auch eine Gegnerschaft zu Autofahrenden. Die Autos wurden als Gefahrenquellen für die Radfahrenden beschreiben und erschienen dabei als unberechenbare und unbelebte Objekte, die man einhegen konnte. Gegner in den dänischen Erzählungen, so schildert es dieser Artikel, waren andere, nämlich Kommunen, die die keine Radwege bauen, oder Eisenbahngesellschaften, die keine Fahrradmitnahme erlaubten. 

Wir in Deutschland stecken da so mittendrin, versehen mit den Erkenntnissen aus Kopenhagen, aber verhaftet in unserer Sprache, die die Schuld an Misstimmungen, Konflikten und Kollisionen im Straßenverkehr bevorzugt Radfahrenden zuspricht. Sobald mal Radfahrende von der Polizei auf Gehwegen kontrolliert werden, jubelt ein Teil der Kommentantor:innen und fordert noch mehr, sobald Autos kontrolliert werden, spricht man von Abzocke. Wir glauben in Deutschland immer noch, es gehe gegen das Auto, wenn es eigentlich um sichere Radwege (und Gehwege) geht. 

In diesem Zusammenhang ist der Begriff "autofrei" nicht so glücklich gewählt. Zum einen geht es nie um völlig autofrei, das ist eine Irreführung. Zum andern, so der IASS-Artikel, tut man damit so, als gehe es gegen Autos. Es geht aber doch eigentlich um "sichere Straßenräume für Menschen zu Fuß und auf dem Fahrrad". Wir sollten den Straßenraum nicht mehr ständig aus Sicht von Autofahrenden denken, sondern endlich aus Sicht von Kindern, Alten, Jugendlichen und so weiter. Und dann "sperren wir eine Straße" nicht mehr, sondern wir "öffnen sie" für alle Menschen. Der Begriff "offene Straße" trifft es auch viel besser, denn nun kann auf ihr alles stattfinden, es fahren nicht nur Autos, die Radfahrende und Fußgänger:innne aussperren oder an den Rand verdammen. 

Auch den Begriff "Parkplatz" stellt von Schneidemesser infrage. Das Auto ist der einzige private Gegenstand, den alle auf der Straße abstellen und tagelang lagern dürfen, wenn sie es auf dem Privatgrundstück nicht unterbringen können oder wollen. (Wehe, ich stelle meine Kommode oder Werkzeugbank auf die Straße!) Und Städte und Kommunen machen es sich sogar zur Aufgabe, mit viel Geld Lagerplätze für Privatautos herzustellen und zu pflegen (1500 bis 500 Euro pro Platz, an der Neuen Weinsteige sogar über 100.000 Euro, weil vorkragende Terrassen gebaut werden). Autolagerplätze wäre das treffende Wort, auch wenn es uns zunächst komisch vorkommt. Es trifft aber den Sachverhalt sehr genau.  

Also: Wir sind für offene Straßen, frei von Autolagerplätzen, und eine Mobilitätspolitik der Kollisionsvermeidung zwischen Radfahrenden, Fußgänger:innen und Autofahrenden.  


3 Kommentare:

  1. Danke für das Wiederaufbringen des Themas. Du zeigst im zweiten Bild eine Collage von Zeitungsüberschriften. Zum zweiten von oben, linke Spalte - das dürfte dieser Artikel sein: https://twitter.com/Andreas15892277/status/1576196692751265792

    Da gibt es nicht nur die Überschrift, sondern im Text auch den Verdacht der Autofahrerin über "viel zu hohes Tempo" des Radfahrers. Dieser hatte Vorfahrt.

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  2. Sehr guter Artikel, aber eine Sache hast du anscheinend übersehen. In dem Satz "Es kam zu einer Berührung zwischen dem Laster und der Radfahrerin, woraufhin diese stürzte und sich schwere Verletzungen zuzog" ist das Schlimmste, die Radfahrerin hätte SICH Verletzungen zugezogen. Das tat sie nicht, ihr wurden Verletzungen zugefügt.

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    1. Da hast du Recht, diesen Part habe ich nicht auch noch betrachtet, ich dachte irgendwie, es wird alles viel zu lang. Ich ergänze es jetzt.

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