22. April 2023

Was passiert jetzt mit den Daten?

Der SWR hat mit viel Aufwand Daten über den Zustand des Radverkehrsnetzes in Baden-Württemberg und auch in Stuttgart gesammelt. Und was passiert jetzt damit? 

Radfahrende werden an den Rand gedrängt, so das Ergebnis der Aktion, die bereits 2021 stattfand und über die ich damals auch kurz berichtet habe. Die Radfahrenden dokumentierten für den SWR und den Verkehrsökologen Prof. Jochen Eckart von der Hochschule Karlsruhe per Handy-app SimRa (Sicherheit im Radverkehr) ihre Fahrten. Die App misst plötzliche Bremsaktionen oder Ausweichmanöver und fragt hinterher nach dem Grund. Und sie maßen die Überholabstände von Fahrzeugen mit Sensoren. Es wurden über 10.000 Meldungen in Baden-Württemberg gesammelt, die man sich hier verschriftlicht in einer Excel-Datei runterladen kann. Außerdem gibt es auf der SWR-Seite eine Karte, auf der man die einzelnen Stellen und Meldungen anschauen kann (Foto unten). Da geht es um fehlende Radwege, zugeparkte Kreuzungen, fehlende Sicht, eine unfallträchtige Radverkehrsführung, Radstreifen, die plötzlich enden, oder eine Verkehrsführung, die den Radfahrenden beim Linksabbiegen auf die falsche Straßenseite schickt. 

Dem Bericht zufolge stresst die Radfahrenden am meisten im Stadtverkehr der zu enge Überholabstand, wenngleich Unfälle im Längsverkehr nach wie vor selten sind.

Auch die gesetzliche Regelung, wonach Autofahrende 1,5 Meter Abstand halten müssen, hilft nicht viel. Bei mindestens einem von drei Überholvorgängen unterschritten die Autofahrenden den gesetzlich vorgeschriebenen Abstand. Der Grund ist übrigens der Studie zufolge, dass viele Straßen so schmal sind, dass Autofahrende eigentlich hinter den Radfahrenden bleiben müssten, dies aber nicht nicht wollen, sondern bei der erstbesten Gelegenheit vorbeifahren, auch wenn der Platz für einen angemessenen Überholabstand gar nicht ausreicht. Ans Überholverbot, das sich aus der 1,5-m-Regel ergibt, halten sich viele in den links und rechts zugeparkten Wohnstraßen auch nicht. 

Allerdings, so Prof. Eckart, gibt es die meisten Zusammenstöße von Autofahrenden mit Radfahrer:innen im Querverkehr, also auf Kreuzungen oder in Einmündungen und unübersichtlichen Ein- und Ausfahrten. Wer also wirklich solche Unfälle verringern möchte, muss die Kreuzungen anders regeln, also gleichzeitiges Grün von Autos (deren Fahrer rechts abbiegen wollen) zusammen mit Geradeausradfahrenden beseitigen. 

Eine Meldung betrifft beispielsweise die Solitudestraße, die nach Weilimdorf hineinführt. Der straßenbegleitende Radweg liegt einige Meter hinter einem Grünstreifen und an der Kreuzung Thaerstaße stehen Bäume, sodass nach rechts abbiegenden Autofahrer:innen die parallel geradeaus radelnden Radfahrer:innen nicht unbedingt ins Auge fallen, zumal sie sie ja ohnehin nur ungern sehen wollen. Hier hat im Mai 2020 eine Autofahrerin einen Radfahrer umgefahren und schwer verletzt. Geändert hat sich seitdem nichts. 

Ich sehe auch nicht, dass in absehbarer Zeit zu erwarten ist, dass sich an solchen und anderen Radwegführungen und an  unseren Kreuzungen irgendwas ändern wird. Noch ist unsere Jahr für Jahr durchaus besser werdende Radinfrastruktur nicht tauglich für radelnde Kinder (über 10 Jahre) selbst dann nicht, wenn sie in Begleitung von Erwachsenen radeln. Poltisch haben wir noch viel zu sehr damit zu tun, überhaupt Radinfrastruktur zu erstreiten und dann zu verhindern, dass sie Baustellen komplett wieder zum Opfer fällt (so wie demnächst an der Neckartalstraße stadtauswärts). 

Wir erfahren eigentlich auch nichts, was wir alle, die wir uns mit Radverkehr befassen, nicht schon längst wissen. Wir kennen die Ecken, wir kennen die Gefahren, wir erfahren, dass auch andere unsere Ecken als gefährlich oder schwierig erleben. Wir spüren, der Autoverkehr bleibt eine gewisse Gefahr für Radfahrer:innen, wobei man die Gefahr grundsätzlich nicht überschätzen sollte, sonst deklariert man Radfahren zu einer gefährlichen Tätigkeit. Grundsätzlich - und nicht nur in Stuttgart - tun sich die politischen Gremien, also die  Gemeinderäte schwer damit, den Radverkehr prorisiert zu behandeln und im so schnell den nötigen geschützten Raum auf den Straßen zu geben, den er bräuchte, damit seine Zunahme einen deutlich messbaren positiven Effekt auf den Stadtverkehr (Reduktion der Autofahrten) und des CO2-Ausstoßes im Verkehrssektor hätte. Wir sind zu langsam, obgleich wir ausreichend Daten haben und wissen, was wir tun müssten. 

15 Kommentare:

  1. Wie es Christine schreibt, wir versuchen überhaupt etwas zu kriegen.
    Zum Abbiegen, wichtig ist das Kurvenradien eng sind, dann wird so langsam gefahren, das Menschen die Situation einschätzen können.
    Ein abgesetzter Weg der übersichtlich ist hilft. Siehe dazu MediaMarkt Feuerbach.

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  2. Schon oft hier gesagt, Studien, Fahrradprofessuren, der ganze Kokolores dient nur dazu, so zu tun als wolle man etwas tun.
    Die Grünen sind leider eine Schande...

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    1. Grün ist nur eine Farbe, die Lobbypolitik ist das Problem. Um so älter die Politiker, um so Eigennützlicher ist deren Politik.

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  3. Ich pendle täglich mit dem Rad durch Stuttgart und in der Tat erzeugt dichtes Überholen den meisten Stress, gefolgt von "dichtes Auffahren, weil kein Platz zum Überholen". Die tatsächliche Gefahr spielt dabei keine Rolle. Radwege stellen komforttechnisch zwar immer eine massive Verschlechterung dar, aber das kompensiert die gefühlte Sicherheit. Und Alltagsradler sind selten Opfer von Dooring oder Vorrangmissachtungen.

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  4. "sodass nach rechts abbiegenden Autofahrer:innen die parallel geradeaus radelnden Radfahrer:innen nicht unbedingt ins Auge fallen, zumal sie sie ja ohnehin nur ungern sehen wollen." - was genau meinst du damit, wo du schreibst dass Autofahrende Radfahrende gar nicht sehen wollen?

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  5. Darüber schreibe ich immer wieder. Siehe hier https://dasfahrradblog.blogspot.com/2021/05/warum-radfahrende-fur-viele.html
    Und hier: https://dasfahrradblog.blogspot.com/2017/07/die-uneingeschrankte-macht-der-strae.html
    Es geht im Grunde darum, dass wir Menschen dazu neigen, nur das zu sehen, was wir sehen wollen. Eine US-Studie hat mal gezeigt, dass viele Autofahrende Radfahrende gar nicht sehen wollen, sie sind ihnen egal. Aber auch in Deutschland sehen Autofahrende oft nur das, was sie interessiert, nicht aber das, was sie nicht interessiert, etwa Radfahrende. Die beiden Artikel führen das noch genauer aus.

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    1. Ich habe letztlich ein paar interessante Artikel zu dem Thema gelesen, wie sehr die "Realität" letzendendes nur eine Interpretation des Gehirns ist, das die Sinneseindrücke, von denen es sonst überwältigt würde, aufgrund von Erwartungen eingrenzt, analysiert und bewertet. Die "Realität" ist in Wirklichkeit nur unsere Erwartung derselben. Im vorliegenden Fall sieht man den Radfahrer besser oder überhaupt nur, wenn man mit ihm vertraut ist und ihn erwartet.

      Leider gibt es aber nur in sehr geringem Umfang Lerneffekte. Im Gegenteil, die Vergessenseffekte sind viel stärker. Jemand wie ich, der wie fast alle Kinder zu der Zeit ganz selbstverständlich mit dem Fahrrad aufgewachsen ist, stellt dann fest, dass eine Mehrheit seiner Zeitgenossen keinerlei Erinnerung mehr daran hat und die Existenz von Radfahrern geradezu leugnen würde, so, sehr sind sie nicht mehr Teil ihres Erwartungshorizonts.

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    2. Das ist interessant. Weißt du noch, welchen Artikel du gelesen hast und wo ich ihn finden könnte?

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    3. Es war ein englischer Artikel in Scientific American, von Anil K. Seth.
      Hier ein Link zu einem Artikel im Guardian, auch englisch, aber evtl. mit Google trad lesbar.

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    4. Link vergessen: https://www.theguardian.com/books/2022/oct/03/the-big-idea-do-we-all-experience-the-world-in-the-same-way

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  6. das sind ganz tolle und wichtige erkenntnisse, die hier vom öffentlich-rechtlichen rundfunk erarbeitet wurden.
    nun gilt es , in möglichst breit angelegten studien diese erlenntnisse auf allgemeingültigkeit zu prüfen, um sie dann in ein geserzgebungsverfahren zu bringen. dazu werden mehrere typologisch unterschiedliche mobilitätspilotstädte ernannt, die umfangreiche fördergelder erhalten, damit neue mobilitätskonzepte in reallaboren über mehrere jahre untersucht werden können.
    nach vorliegen der abschließenden ergebnisse, also dem einrichten der pilotstädte, der auswertung von erkenntnissen, dem gesetzgebungsverfahren , werden maßnahmen auf den weg gebracht.
    ich schlage reutlingen und herrenberg vor.
    ach so.
    die waren ja grad dran.
    also dann halt heilbronn und göppingen.
    ach so.
    das ist ja gar nicht der wahlkreis meines kumpels.
    ach irgendwie wird die sache schon im sand verlaufen.

    karl g. fahr

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  7. Bei uns in Fürstenfeldbruck (Bayern) wäre es technisch und rechtlich möglich, die Stadt quasi über Nacht wirklich fahrradfreundlich zu machen, indem alle Benutzungspflichten zugunsten von Benutzungsrechten abgeschafft werden (gemeinsame Geh/Radwege ohne Benutzungspflicht, bundesweit eingeführt ca. 2017). Wie sieht es damit rechtlich in BaWü aus?

    Ich kann aus Erfahrung sagen, dass selbst diejenigen im Stadtrat FFB, die die Verkehrswende tatsächlich wollen, die Schere im Kopf tragen und auf diese einfachste der Möglichkeiten zur Gleichstellung der Fahrzeugarten allergisch reagieren. Man träumt stattdessen von Radschnellwegen, Luftpumpenstationen und albernen Wegweisern für Wochenend-Ausflügler, Hauptsache, der Status Quo wird nicht angetastet und alles liegt in weiter Zukunft.

    Und das sind, wie gesagt, die angeblichen Befürworter einer Verkehrswende. Die wirklichen Befürworter einer Verkehrwende sind nicht im Stadtrat vertreten, die fahren einfach mit dem Rad und hoffen auf bessere Zeiten. Im Stadtrat wären sie Aliens.

    Stefan, Fürstenfeldbruck, Bayern

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    1. Mischverkehr Fahrrad/Auto auf Fahrbahnen ohne Radinfrastruktur dient leider nicht der Fahrradförderung, weil viele, die Fahrrad fahren würden, sich das nicht zumuten wollen. Der Radverkehr hat nur in den Städten richtig zugenommen, die ihn vom Autoverkehr trennen (Kopenhagen, Niederlande, Paris). Trotzdem wäre es sinnvoll, die Radwegbenutzungspflicht aufzuheben. Das sehe ich auch so. Aber Radverkehrsförderung ist sehr komplex, Radfahrende sind eine viel weniger homogene Gruppe als Autofahrende, sie haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse.

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  8. In Tübingen ist es leider genauso; vor allem die Schnellfahrstrecken der automotorisierten Einpendler sind dem Palmer und seinen Planern heilig. Diese Strecken werden auch mit allen Mitteln vom Lärmaktionsplan ausgenommen. Von der GAL ist da wenig zu erwarten. Von den anderen sowieso nichts. Ein Elend.
    Thomas

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    1. Tja, exakt das ist ja das vielgelobte und zur Kopie anempfohlene Niederländische und Dänische Paradigma.
      Maximalseparation für radbefreite Fahrbahnen mit paralleler Radverkehrsförderung für die Kurzstrecken im Binnenverkehr und Autoverkehrsförderung für die mittleren und langen Distanzen im Pendel-, Freizeit- und Güterverkehr.
      Bilanz bislang:
      Anstieg des berühmten 'Radverkehrsanteils', Anstieg der Autodichte, Anstieg der Autofahrleistung.
      Also eklassische 80er Jahre Planung und definitiv nicht geeignet um den Herausforderungen des 21.Jhd. begegnen zu können.
      Dazu kommen noch die im Vergleich zu Deutschland sehr hohen niederländischen Todeszahlen des dortigen 'protected' separierten Radverkehrs. Was den Umgang mit 'Daten' angeht wäre es längst überfällig sich der Daten des Gesamtverkehrs zu bedienen, um überhaupt Sichtbarkeit für das eigentliche Problem des Verkehrssektors zu schaffen:
      den immer weiter überbordenden Autoverkehr.
      Wer Radverkehrsförderung mit Ökologie und Klimaschutz verbinden will erweist diesen Zielsetzungen einen Bärendienst, wenn die untaugliche Messgröße 'Radverkehrsanteil' weiter in den Mittelpunkt gestellt wird.
      Vielmehr wäre endlich zu fragen:
      was sind die zentralen Stellgrößen der Autogerechtigkeit von 'Radverkehrsförderung', und mit welchen Konzepten können Radverkehrsförederung und Ökologie/Klimaschutz in Einklang gebracht werden. Richtige Messgröße für Verkehrspolitik des 21.Jhd:
      Grad des Rückgangs des Autoverkehrs!
      Das alte Rezept von 'lets go dutch' hat seine Chance gehabt, und es kann wohl nach mehreren Jahrzehnten empirisch gesichert festgestellt werden:
      'untauglich'.
      Alfons Krückmann

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