14. September 2019

Ihr werdet doch auch mal schieben können

Oder bremsen. Oder eine U-Kurve fahren. Oder das Rad den Bordstein hochheben. Wenn das nicht mehr zumutbar ist ...

Es gibt entrüstete Antworten, wenn wir Radfahrenden uns über ungeschickte Verkehrsführung beschweren. Über zu hohe Bordsteine, unmögliche Kurven, Schiebestrecken, lange Wartezeiten an Ampeln. Oder gar darüber, dass Linksabiegen nur halblegal möglich ist. "Was wollt ihr denn noch alles? Und ihr fahrt doch sowieso immer bei Rot."
Wir sind diejenigen, die für die Brosamen dankbar sein sollen, die wir hingeworfen bekommen. Einen Radstreifen, einen Schutzstreifen, einen Drücker an einer Ampel. Man hat eine Radinfrastruktur irgendwo so hingeklemmt, dass Autofahrende nicht behindert werden. Eine Baustellenumleitung war schon für die Autos kompliziert genugt. Und für die Fußgänger/innen. Und jetzt kommen die Radler daher und wollen es auch noch bequem haben. 

Ich erinnere mich an eine Diskussion im Radforum über die Streckenführung für Radler/innen im Schlossgarten. Das Land wollte unbedingt, dass wir die Platanenallee lang fahren. Aus der Innenstadt kommend beginnt die allerdings mit einer Neunzig-Grad-Rechtskurve. Die Vertreterinnen des Landes konnten gar nicht verstehen, dass wir so eine Kurve ablehnten. Sie würden die fahren. Und das hoppelige Schmuckpflaster mache ihnen auch nichts aus. Etliche Vielradler sahen das anders. Das Unverständnis für die Ansprüche der Radfahrenden blieb. (Die Streckenführung wurde wieder aufgehoben.)

Und dann kommt der Festles-Sommer, und jedes Wochenende oder jedes zweite versickert die Hauptradroute 1 vor der Oper zwischen Zelten und Feiernden, liegen Kabelführungen quer zu unserer Strecke. Immer wieder werden wir über eine abenteuerliche Umleitung geschickt (manchmal sogar ausgeschildert für Leute, die genau gucken), doch auch auf der Alternativstrecke über den Gehweg entlang der B 14 hinter der Oper entlang, parken Autos, stehen Leute.


Und jedes Jahr zwei Mal knallt der Veranstalter Sperren mit sinnlosen Absteige-Schildern an den Abgang zum Cannstatter Wasen. Mitten in eine der wichtigsten Radrouten. "Diese Scheiß-Radler werden doch auch mal absteigen können! Die fahren doch eh ständig auf dem Fußgweg."

Autofahrenden mutet man so wenig wie möglich zu. Keine Sekunde zusätzlich dürfen die im Stau stehen. Selbst an den Bahnhofsbaustellen wird der Autoverkehr immer mehrspurig flüssig gehalten. Für Baustellenumleitungen werden temporär Fahrradstraßen für den Autoverkehr umgewidmet. Für Autofahrende stehen die Ampeln immer in Blickrichtung, und sie haben Grüne Wellen.

Warum kann man uns diesen Hinternisparcour zumuten? Ist die Radinfrastruktur nur ein Geschenk, für das wir dankbar sein müssen? Und: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.

Die Antwort ist ganz einfach: Wir sind keine Autofahrenden. Und wir sind die Störenfriede im friedlichen Arrangement, das die Autogesellschaft mit den Fußgänger/innen getroffen hat. Fußgänger haben akzeptiert, dass sie keinerlei Ansprüche stellen könnnen. Zwar gibt es inzwischen Fußgängerverände, aber die sind immer noch ziemlich leise. Wenn sie mal richtig laut werden, dann vorzugsweise gegen Radfahrende ("Die ignorieren 90 Prozent der Regeln"), nicht gegen die Dominanz des Autoverkehrs allüberall.

Auch wenn sie die Perspektive auf unseren Stadtverkehr gerade grundlegend ändert, so sind wir noch weit entfernt davon, dass der Gedanke die Planung und Ausführung von Radwegen bestimmt,  Radfahrende müssten es bequem und schön haben, weil sie die umweltfreundlichste Mobiliätsform im Stuttgart sind. Man müsse Radfahrende umwerben und mit richtig schönen Angeboten auf die Straßen locken. Und sie müssten sich rundum sicher fühlen. Statt dessen geht man ziemlich rüde mit uns um: Friss oder stirb! Der Blick auf unseren Staßenverkehr wird von routiniert radfahrenden Männern bestimmt, die sich über Regeln hinwegsetzen und sich gerne auch mal eine Brüllerei mit Autofahrenden liefern.

Hindernisparcour auf der Radroute
Man setzt auf Radfahrstreifen, und die wurden bislang nur dort geplant, wo für den Autoverkehr die Fahrbahn saniert werden musste. Vor den Kreuzungen enden sie, Radfahrende werden über mehrzügige Fußgängerampeln geschickt, teils per Radweggebot. Sie müssen Bordsteine überwinden, und gefährliche Grundstücks- und Tiefgarageneinfahrten passieren. Sie haben rechts geparkte Autos mit Dooring-Gefahr und links den teils aggressiven Autoverkehr und auf dem Radstreifen drei Gullideckel. Radlerampeln gibt es selten, und oft stehen sie gar nicht in Blickrichtung. Hauptradrouten werden durch engste Fußgängerbereiche geführt. Pflastersteine sind von Autos lose gefahren worden, stehen hoch und bedeuten Sturzgefahr. Und ich weiß auch von Radfahrenden, die da schon gestürzt sind. Schutztstreifen sind verdreckt und hoppelig. Mülltonnen, Baustellenklos, Straßenschilder versperren den Weg. Polizisten nehmen Partei für den überholwütigen und nötigenden Autofahrer, nicht für die geschockte Radfahrerin.

Fahrradfahren, so die anscheinend tief sitzende Überzeugung, ist doch irgendwie immer noch Abenteuer,  Regelwidrigkeit, Held/innentum mit Pfadfinderseele. Der Radler will sich doch anstrengen, er mag Steigungen und Hindernisse. Wieso nimmt er denn sonst das Fahrrad anstelle des Autos oder des langweiligen öffentlichen Nahverkehrs? Und wenn die Radlerin Angst vor Autos hat, soll sie doch Auto fahren. Radfahrende halten sich  sowieso auch noch für was Besseres. Das hat halt seinen Preis. Umwelt schützen ist kein Ponyhof. Wenn's nicht wehtut, dann ist es nichts wert. Dann können sich die Radler nicht gut fühlen.

In der Tat, wenn alles super bequem wäre (Sahneasphalt, intuitive und durchgängige Streckenführung, Vorrang für Radler/innen), dann würden ja viel mehr Menschen das Fahrrad nehmen. Dann wäre Schluss mit dem individuellen Heldentum des Allwetterradlers auf der Pendlerstrecke und der Bewunderung der Kolleg/innen. Wäre Radfahren ein Massenphänomen im Stuttgarer Kessel und nicht mehr die Pioniertat von tapferen Dreißigtausend, dann wär's vorbei mit dem Nimbus. Dann könnten wir uns nicht mehr beschweren.

Unsere Infrastruktur wurde über sechzig Jahrzehnte für den Autoverkehr perfektioniert. Straßen sind alle so konstruiert, dass man sie mit dem Auto in immer gleicher Geschwindigkeit befahren kann. Stellt man irgendwo ein Tempo-40 Schild auf, gibt es Geschrei und die Zeitungen schreiben darüber. Und über rote Ampeln beschweren sie sich, jeder wünscht sich auf seiner Strecke eine grüne Welle. Denn rote Ampeln sind das Einzige, was Autofahrende zum Stillstand ausbremst. (Außer sie tun es wegen ihrer schlichten Menge durch Stau selbst, aber dann kommt sofort die Forderung nach noch mehr Autostraßen und Tunnel und Umgehrungsstaßen und und und.)

Für Radfahrende ist gar nichts perfektioniert.
Radfahrende haben immer noch sehr viel auf ihren Wegen, was sie ausbremst. Selten ist ein Radweg oder ein Radstreifen länger als fünfhundert Meter. Auf ihn zu gelangen und von ihm runter und weiterzukommen, ist mit Pfadfindertum verbunden. Mal landet man vor Autokühlern, mal auf Gehwegen. Man hopst Bordsteine runter oder rauf. Aus Radwegen werden plötzlich Fußwege mit Rad-frei (was eine Rekuktion auf Schrittgeschwindigkeit erfordert), Linksabbiegen ist meist kompliziert, Fahrbahnmarkierungen passen nicht zur Fahrlinie eines Fahrrads, der Untergrund ist eine Hoppelpiste, Schilder stehen im Weg, Radstrecken enden an Fußgängerüberwegen. Aufstellplätze an Ampeln fehlen, Radler quetschen sich in den Rechtsabbiegebereich der Autos, Autos parken auf Radstreifen.

Aber, he!, auch noch Ansprüche stellen, wenn man euch gerade einen Radstreifen hingemalt oder einen Ampeldrücker installiert hat? Was fällt euch ein? Haltet ihr euch für den Mittelpunkt der Verkehrswelt? Ihr Ökoterroristen! Glaubt ihr, es müsste sich alles nach euch und euren Bedürfnissen richten?

Äh, doch ja, eigentlich glaube ich das. Denn das Fahrrad ist nicht Teil des Verkehrsproblems in Großstätten, sondern seine Lösung. 

Nachtrag, Ende 2020: Der Bordstein, den wir ganz oben auf dem Foto sehen, wurde inzwischen deutlich entschärft. Danke an die Stadt.)





10 Kommentare:

  1. hi, vielen Dank für ihren Beitrag. Man vergisst auch schnell, dass viele Fahrradweg auf der Straße direkt an parkenden Autos vorbei führen. Da man immer einen Sicherheitsabstand zu stehenden Autos einhalten sollte, sind ein großteil der Fahrradwege und Schutzstreifen nicht ausreichend breit. Hinzu kommt, dass viele Autofahrer meine ab der Schutz- und Fahrradwegmakierung beginnt ihre Fahrspur. Diese haben kein Gefühl dafür wie nah Sie an manchen Radfahren vorbei fahren.

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  2. Hallo zusammen,

    ja, das ist wohl auch der Grund, warum es in Stuttgart mit dem Ausbau der Radfahrstrecken so schleppend voran geht.

    Ich habe noch nie gesehen, dass ein Autofahrer eine Ampel per Knopf freischalten muss. Vor einer Straße, wo weit und breit kein anderer Verkehr sichtbar ist. Stattdessen gibt es bequeme Induktionsschleifen und eine rund um die Uhr besetzte Verkehrszentrale, die dafür sorgt, dass sie flüssig vorankommen. Inzwischen gäb's die Technik auch für Fahrräder, wahrscheinlich sogar für Fußgänger. Aber niemand würde auch nur daran denken.

    Dennoch frage ich mich, warum so ein Artikel in einer Stadt erscheint, die seit acht Jahren eine grüne Verwaltungsspitze hat. Meine Erwartung war, wenigstens erst mal die StVO durchzusetzen. Dazu brauche ich keine Mehrheiten und nicht mal den Gemeinderat. Wenn Radfahrer durch klar verbotene Verkehrsregelungen Radfahrer oder Fußgänger schikaniert werden, dann ist es die rechtliche Pflicht der Verwaltungsspitze, durch entsprechende Anweisungen diesen Zustand zu beenden. Gleiches gilt auch für die Fachaufsicht durch das Regierungspräsidium und zuletzt ein (übrigens grünes) Ministerium.

    Warum gibt es immer noch die Radfahr-Verbotszeichen (Christine, du nennst sie rote Lollis), das ist ein rein Stuttgarter Phänomen? Oder warum sind immer noch viele Einbahnstraßen nicht für Radfahrer freigegeben? Dazu muss der OB oder Verkehrsbürgermeister kein "Diktator" sein, sondern nur ganz normal seinen Job machen.

    Ob da irgendwo in einem Stadtteil eine Hauptradroute eröffnet wird, interessiert wenn überhaupt nur die, die in diesem Stadtteil wohnen oder arbeiten. Nur Besserungen in der Innenstadt würden tatsächlich wahrgenommen.

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    1. Lieber Ralph, im Zielbeschluss zum Radentscheid sind viele dieser Dienge als Maßnahmen hinterlegt, der Haushalt muss jetz die Mittel dafür bereitstellen. Wird auch geschehen, falls wir am Ende, im Dezember eine Mehrheit für den Haushalt dann auch zusammenkrigen. Die Verkehrsbehörde samt Verkehrsüberwachung (ruhender Verkehr) gehört zum Bereich des Ordnungsbürgermeisters (CDU) und für den gab es im vergangenen Haushalt mehr Stellen für die Falschparkerüberwachung, aber eigentlich braucht er hunderte bis tausende Stellen, um den entfesselten Autoverkehr wieder einzufangen und in die Bahnen der Vekehrsregeln zu lenken. Die rollende Polizei gehört zum Landesinnenministerium (CDU). Gespräche finden statt, und viele jüngere Beamt/innen (die nach und nach in Führunspositionen gelangen, kommen nicht mehr vom Autofahren, sondern vom Fahrradfahren her. Ich denke auch da wird sich was verändern. Jetzt ist die Frage, welche Verwaltungsspitze hier anordnen kann, dass die StVO durchgesetzt wird (rollender Vekrehr; Rotlichtverstöße, falschrum in Einbahnstraßen fahren, Missachtung von Durchfahrtsveboten) muss die Landespolizei überwachen. Und wenn ich mir unseren Autoverkehr so anschaue, dann braucht man im Grunde an jeder Straßenecke Polizisten, die dafür sorgen, dass die Regeln wieder eingehalten werden. Ich persönlich glaube, es geht nur mit weniger Autoverkehr in der Stadt: Wir müssen die Illusion beenden, dass in der Innenstadt sinnvoll Auto gefahren werden kann (Zugang nur zu Parkhäusern, keinerlei Straßenrandparken mehr), Poller verbindern illegale Durchfahrten und so weiter. Daran arbeiten wir. Die RAdfahrverbotszeichen gibt es beispielsweise am Charlottenplatz deshalb noch immer, weil die Räumzeiten von Radlern auf dieser riesigen Kreuzung beim Linksabbiegen zu kurz sein könnten. Jetzt kannst du sagen, dann muss man halt die Ampelphalsen ändern, aber das ist halt nicht banal, und dazu müssten man bei den Ingenieuren Leute haben, die selbst ein Interesse dasran haben, das auszuknobeln. Ich würde mal sagen, anständige Radwegeführungen im Zug des Zielbschlusses (entlang aller Hauptverkehrsstarßen) werden sie mittelfistig überflüssig machen. Wir befinden uns am Beginn eines grundlegenden Wandels, leider noch nicht mitten drin.

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    2. Das verstehe ich jetzt gar nicht. Warum brauche ich einen Radentscheid, hunderte Stellen oder Polizisten, um die StVO anzuwenden? Das ist gewöhnliches Tagesgeschäft. Selbst ein Praktikant könnte eine Liste aller "Stuttgarter Lollis" machen, und dann werden diese entfernt. Bis auf jene zehn Prozent, die einer rechtlichen Prüfung standhalten.

      Gleichermaßen mit Einbahnstraßen. Man listet alle auf und prüft, ob es irgendwo einen Sonderfall gibt. Dieser muss in einer Aktennotiz ausführlich begründet werden. An alle anderen nderen schraubt man "Radfahrer frei". Fertig. So geht StVO.

      Ich hatte diese Schritte im ersten Jahr erwartet, gerade weil sie so mühelos und einfach sind.

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    3. Entschuldigung, keine Ahnung, warum der als anonym durchging.

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    4. Also das lange da oben mit "Das verstehe ich jetzt gar nicht. Warum brauche ich ..." Das ist von mir.

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  3. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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    1. Dieser Kommentar wurde von mir entfernt, weil er anonym einen nicht begründeten Angriff auf zwei Personen enthielt. Kritik ist gut, aber Kritik wird begründet und sie geschieht niemals anonym.

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  4. In business as in life, you don't get what you deserve, you get what you negotiate. Was verhandelt er Radverkehr? Er zahlt fast jeden Preis für vermeintliche Schutzräume gleich welcher Qualität; er protestiert nie, wenn wieder dem Radverkehr wieder einmal vorgeblich ein „roter Teppich“ ausgerollt wird; sein Drohpotenzial beschränkt sich auf die Ankündigung, dann eben nicht Fahrrad zu fahren. Der Radverkehr lädt mithin die automobile Gesellschaft geradezu ein, ihn über den Tisch zu ziehen.

    Wer mehr wollte, müsste zuerst die Gleichberechtigung des Radverkehrs auch um den Preis von Eingriffen in den Kfz-Verkehr durchsetzen. Man müsste sich beispielsweise einige Hauptstraßen und Kreuzungen herauspicken und durchsetzen, dass der Fahrzeugverkehr dort zivilisiert wird, so dass Radfahrer ohne Bedenken daran teilnehmen können. Von dieser Baseline ausgehend könnte man dann die Vor- und Nachteile von Alternativen und den Preis von Optimierungen diskutieren.

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    1. Danke Sven, mit anderen Worten und aus einer anderen Perspektive auf den Punkt gebracht. Ich werde mal so weiterdenken. Derzeit sind ein paar Projekte in der Planung, die mich hoffen lassen, dass wir genau das hinkriegen.

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