18. Dezember 2024

Fehler im System oder individuelle Fehler?

Das Eigenartige im Straßenverkehr ist, dass es Verkehrsregeln gibt, von denen man annimmt, dass sie sämtliche Zusammenstöße verhindern, wenn sich alle daran halten.  

Jeder Zusammenstoß wird deshalb als individuelles Ereignis betrachtet, bei dem eine oder beide Parteien gegen eine Regel verstoßen, also einen Fehler gemacht haben, und sei mit Absicht oder aus Versehen. Wenn die Leute alles richtig machen würden, gäbe es diese Zusammenstöße nicht. Doch wenn Menschen immer wieder den gleichen Fehler machen, bei dem sie selbst oder andere zu Schaden kommen, könnte man das auch als Fehler im System sehen und das System ändern. 

Beim Autoverkehr macht man das sogar regelmäßig. So wird in Cannstatt an der Stelle, wo Autofahrende gerne illegal links über die Stadtbahnschienen abbiegen und schwere Zusammenstöße mit der Stadtbahn verursachen, jetzt eine Linksabbiegemöglichkeit geschaffen. Man gibt nach und legalisiert, was bislang illegal war. 

Und wie ist das beim Radverkehr?

Das schwierigste nicht passende System sind für Radfahrende freigegebene Gehwege. Vor allem die auf viel befahrenden Pendlerstrecken wie dem Neckardamm in Stuttgart zwischen Cannstatt und Hofen. Sie gehen über viele Kilometer. Doch eigentlich dürfen wir darauf nur Schrittgeschwindigkeit fahren, was auch dann gilt, wenn kein Fußgänger unterwegs ist. Das heißt, wir bräuchten vier mal so lang und könnten auch gleich zu Fuß gehen. Folglich sind sie als Radstrecken für weit Fahrende nicht geeignet. Und alle fahren schneller als erlaubt und damit permanent in der Illegalität. Aber niemand kommt auf die Idee, per Änderung der StVO die Schweizer Lösung einzuführen, wonach Radfahrende in freigegebenen Fußgängerzonen die Geschwindigkeit anpassen müssen. Von immer Schrittgeschwindigkeit steht da nichts. Die Schweizer:innen wissen, dass Radfahrende ihre Geschwindigkeit anpassen, wenn Menschen zu Fuß unterwegs sind. Und sie wissen übrigens auch, dass es unklug ist, Radfahrende aus Fußgängerzonen von Konsummeilen herauszuhalten, weil sie gute Kund:innen sind. Gehwege scheinen sie nicht fürs Radfahren freizugeben. Das ist eine deutsche Eigenart, insbesondere eine Stuttgarter. Der Regelverstoß steckt hier im System. 

Das größte Risiko fürs Radfahren auf Radwegen sind über den Radweg hinweg abbiegende Autofahrende. Die sogenannten Abbiegeunfälle enden oft für den Menschen auf dem Fahrrad tödlich. Natürlich muss der Autofahrer vor dem Abbiegen gucken. Tut er oder sie aber oft nicht. Also müssen Radfahrende gucken, wenn sie sich selber vor den Fahrfehlern der Leute in Autos schützen wollen. Es lässt sich jedoch nicht immer vorhersagen, ob der parallel fahrende Autofahrer abbiegen wird, ungefähr ein Drittel der Autofahrenden blinkt vorher nicht. Offensichtlich sind alle Beteiligten mit dieser Situation überfordert, es häufen sich individuelle Fehler. Der Fehler steckt also im System. Zu oft haben Autofahrende, die rechts abbiegen wollen, gleichzeitig Grün mit Radfahrenden, die geradeaus fahren. Zu oft erlauben die Kurvenradien den Autofahrenden, viel zu schnell abzubiegen (siehe Foto ganz oben, Heilbronner Straße). Das könnte man ändern. 

Der Schutz vor Fahrfehlern anderer wird statt dessen aber den Radfahrenden selbst übertragen oder überlassen. Da ermahnt man zum Beispiel Radfahrende per Bodenmarkierung (die auch noch hoppelig ist) langsam zu fahren, weil Gefahr von rechts abbiegenden Autofahrenden droht, so wie an der Ampel am Waldeck in der Böblinger Straße in Kaltental (Foto), statt die Ampelschaltung so zu ändern, dass diese Gefahr durch Regelverstöße von Autofahrenden nicht mehr droht. 

Unser System verlangt von uns Radfahrenden, dass wir nicht nur selber keine Fehler machen, sondern auch die Regelverstöße und Fahrfehler des schnellen und potenziell tödlichen Autoverkehrs vorhersehen und berücksichtigen.  

Die Verkehrsregeln sind für Radfahrende dabei ohnehin schon viel komplizierter als für Autofahrende oder Fußgänger:innen, denn die bewegen sich immer im gleichen System, während Radfahrende ständig das System wechseln müssen: Mal radeln sie auf eigens für sie angelegten Radwegen (in Stuttgart sind das nur knapp 10 km), mal auf Radwegen im Mischverkehr mit Fußgänger:innen, mal auf Radfahrstreifen auf der Fahrbahn, mal auf sogenannten Schutzstreifen, dann wieder komplett im Mischverkehr mit Autos auf Fahrbahnen. Sie müssen dabei auf drei verschiedene Systeme von Ampeln (in dann noch unterschiedlicher Ausgestaltung) achten, mal auf Fußgängerampeln (mit Radzeichen in der Streuscheibe) ohne Gelbphase, mal auf kleine Radampeln mit Gelbphase, mal auf oben hängende große Radampeln, mal auf Ampeln für den Fahrverkehr ohne Radzeichen in der Streuscheibe. Sie werden mal wie Fußgänger:innen über Kreuzungen geführt (drei bis fünf mal warten), mal dürfen sie auf der Fahrbahn indirekt links abbiegen, mal direkt. Beim ersten Mal ist jede Strecke für einen Radfahrer alle paar Meter eine Erkundung der Fortführung, die man mit Pfadfindersinn absolvieren muss. Leicht wird es uns - zumindest in Stuttgart - dabei nicht gemacht. 

Olgastr: Radstreifen endet an Parkplätzen
Je komplizierter die Regeln, desto häufiger sind die Verstöße. Ich vermute, dass die meisten Radler:innen intuitiv und mit den Kenntnissen ihrer Führerscheinprüfung unterwegs sind. Schauen, reagieren, irgendwo landen, Fehler machen, sich einen Weg suchen. Es gibt selten eine organische Weiterführung, hinter jeder Kreuzung kann eine andere Radinfrastruktur angeboten werden (Gehweg, Schutzstreifen, Radsteifen oder gar nichts (Foto)), die man, weit vorausschauend, entdecken muss, um sie anzusteuern. Die Regeln sind kleinteilig und variantenreich. Der Radstreifen ist nicht Teil der Fahrbahn, der Schutzstreifen aber sehr wohl (weshalb man ihn verlassen darf), Radwege sind verpflichtend, aber nicht jeder unter jeder Bedingung, auf Gehwegen, die als Mischverkehrsflächen ausgeschildert sind, gelten keine Tempobeschränkungen, auf einem nur freigegeben Gehweg gilt Schrittgeschwindigkeit, was man aber nicht einhalten kann, und so weiter. In dieser Kleinteiligkeit kennen viele die Regeln nicht. (Wobei alle Radfahrenden wissen dürften, dass man nicht bei Rot weiterfährt.) Vom Grünen Pfeil haben viele noch nichts gehört, es gibt ja auch nur ganz wenige bei uns in Stuttgart. Da dürfte man dann nach rechts abbiegen, aber erst, nachdem man angehalten hat. 

Für Manches habe auch ich die Regel noch nicht herausgefunden. Beispielsweise, was ist, wenn ich mich mit dem Rad auf dem Gehweg einer gemischten Rad-/Gehweg-Furt nähere, und die Ampel drüben spring auf Rot, zwei Meter, bevor ich zum Bordstein gelangt bin? Eine Vollbremsung würde mich auf die Fahrbahn rauskatapuliteren. Aber darf ich weiterfahren, ohne das mir ein Rotlichtverstoß vorgeworfen wird? Deshalb gibt es ja eigentlich die Gelbphase für den Fahrverkehr, damit man Zeit hat zu reagieren. Oder: Wenn man über eine Fußgänger-/Rad-Furt mit Ampel nach links auf die Fahrbahn abbiegen will (Foto), tut man das bei Fußgängerrot (und Autogrün) oder bei Autorot und Fußgängergrün, auch auf die Gefahr, dass die Kreuzung hinter dieser Furt gerade dem Querverkehr Grün gibt. (Eine Frage, die nur Radfahrende verstehen, aber nicht Autofahrende oder Zufußgehende, denn denen stellt sich das Problem nie.) 

Eine gute, also dem Radverkehr angemessene Radinfrastruktur würde die Regelverstöße reduzieren, denn sie verringert den ständigen Wechsel der Systeme und der dafür geltenden Regeln.  

Es ist auch nicht so, dass alle Autofahrenden alle Regeln kennen (die meisten würden vermutlich nach zehn oder zwanzig Jahren Fahrerei zunächst durch die theoretische Prüfung fallen), aber Kreuzungen sind für sie immer gleich organisiert, die Autofahrbahn ist immer das dominante Element, die Wege sind immer gebahnt, werden immer von überraschenden Hindernissen freigehalten und sind mit in sich konsistenten Verkehrszeichen versehen (die übrigens so gut wie alle auf dem Gehweg oder auch mal auf dem Radweg stehen). Obwohl sie große Ampeln sehen, fahren auch Autofahrende bei Rot weiter (Foto), auch sie sind teils desorientiert. 

Für Radfahrende ist dagegen keine Strecke eindeutig und hindernisfrei gebahnt. Sie haben Bordsteine oder Verkehrsmasten in ihrer Fahrlinie, das Pflaster ist verboten holprig, sie müssen von der Fahrbahn plötzlich hoch auf den Gehweg und dort an Ampeln warten. Etliche der sogenannten Alleinunfälle von Radfahrenden hängen mit der nicht dem Radverkehr angepassten Infrastruktur zusammen: Bodenwellen, Wurzelaufwürfe, Laub in Kurven, Schlaglöcher, bei erstem Frost nicht gestreute und deshalb spiegelglatte Brücken (z.B. König-Karls-Brücke), Bordsteine in Kurven, Gleise dort, wo man radeln muss, und so weiter. Und zudem die Poller, die nur deshalb aufgestellt werden, damit Autofahrende sich an die Regeln halten und nicht dort durchfahren, wo sie nicht fahren dürfen (z.B. Augustenstraße). 

Zudem queren Fußgänger:innen die Fahrlinien. Es herrscht oft Gewusel, etwa in der Tübinger Straße zwischen Gerber und Rotebühlplatz, weil auch die Menschen zu Fuß nicht so genau wissen, was dort gilt: Nämlich dass die Fahrbahn immer noch eine Fahrbahn ist, auf der Fußgänger:innen nichts verloren haben. Für sie ist sie eine Fußgängerzone. Auch Radwege betrachten manche Fußgänger:innen sehr selbstverständlich als Gehwege (etwa zwischen Ferdindand-Leitner-Steg und S21-Baustelle). Die Verkehrszeichen passen auch nicht immer, vor allem an Baustellen nicht, viel zu oft müssen wir uns fragen, ob das Radfahrverbot hier gelten kann oder nicht. Und je mehr man beim Fahren grübeln - über Streckenführung oder Verkehrzeichenbedeutung nachdenken - muss, desto eher verlässt man sich auf eigene die Einschätzung der Verkehrssituation. 

Wie der ständige Vorwurf an Radfahrende, sie hielten sich ja an keine Regeln, zeigt, wird das Fehlverhalten von Radfahrenden gar nicht als individuelles Verhalten gesehen, sondern als systematisches. Im Radfahren selbst scheint der Regelverstoß zu stecken. Kein Wunder: Unser Verkehrssystem macht es nur Autofahrenden leicht, direkt und so schnell, wie es der Autoverkehr zulässt, irgendwohin zu kommen, nicht aber Radfahrenden (oder Menschen zu Fuß). 

Wobei Radfahrende auch nicht mehr Regelverstöße begehen als Autofahrende oder Fußgänger:innen. Bei allen Verkehrsarten sind es ungefähr fast 100 Prozent, die gelegentlich oder öfter bewusst Regeln verletzen. Autofahrende wollen schnell vorankommen und überall parken, Radfahrende begründen den Verstoß oft mit ihrem eigen Sicherheitsgefühl, also mit Angst vor Autofahrenden. Auf dem Fahrrad will man allerdings auch gern rollen, nicht anhalten und neu starten müssen, weil Starten am meisten Kraft kostet. Fußgänger:innen sehen nicht ein, warum sie lange an der roten Ampel stehen sollen, wenn nix kommt, oder warum sie nicht über einen Radweg abkürzen sollen. Dass wir alle im Straßenverkehr nach eigenem Gutdünken so manche Verkehrsregel für uns selbst außer Kraft setzen (immer mit guten Begründungen) könnte man als eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung beklagen. Oder man könnte sich darüber Gedanken machen, wie der Straßenverkehr organisiert werden müsste, damit Autofahrende nicht zu schnell fahren und nicht blicklos abbiegen können, damit Radfahrende hindernisfrei auf durchgängigen Strecken vorankommen und Fußgänger:innen nicht minutenlang an Ampeln stehen müssen, wenn sie über die Straße wollen. 



2 Kommentare:

  1. Schöne Zusammenfassung des Chaos durch das sich Radfahrer durchkämpfen müssen. Un dzusätzlich noch die ahnungslosen Autofahrer, die einem dann irgendwelche Phantasieregeln erklären wollen oder der Meinung sind, dass sie zu erzieherischen Maßnahmen berechtigt sind.
    Das Ganze macht Radfahren für Nichtradfahrer nicht unbedingt attraktiv.
    Ich frage mich immer, warum macht man von Stadtseite aus Aktionen fürs Radfahren und bietet dann so eine grottige Infrastruktur mit so vielen Anforderung, wie Du sie beschrieben hast, die es jedem Neuling sofort wieder verleidet.
    Karin

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    1. Weil es nicht ums Radfahren geht, sondern darum, ein paar Stimmenprozente einzufangen, und da sind "Aktionen", die nix kosten im Vergleich zu vernünftiger Radinfra, halt konkurrenzlos.

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